Die israelische Regierung nannte mich 2003 den gefährlichsten Palästinenser. Meine Studenten riefen mich zu der Zeit, etwas weniger prätentiös, einfach Wuschelkopf. Mein richtiger Name ist Sari Nusseibeh, aber ich lege keinen Wert auf Höflichkeitsformen, also nennt mich ruhig Sari.
Wieso ich für Scharon zur Gefahr wurde?
Schon in meiner Kindheit habe ich mich für die israelische Kultur interessiert. Ich lernte Hebräisch, gewann viele israelische Freunde und verbrachte einige Jahre in einem Kibbuz. Mit Politik hatte ich nichts zu tun, meine Leidenschaft galt der Philosophie. Ich studierte in Oxford und Harvard und lehrte, zurück in meinem Heimatland, an der Al-Quds-Universität in Jerusalem.
Das war im Jahr 1988.
Mein wilder Lockenkopf konkurrierte nur mit dem Schlag meiner Hose und wenn ich nicht gerade ins Rektorenzimmer gerufen und getadelt wurde, weil ich mit unterschiedlichen Socken zur Arbeit erschienen war oder den Lehrplan nicht eingehalten hatte, so konntet Ihr mich im Hummus Restaurant nebenan finden, wo ich mit meinen Studenten bis tief in die Nacht diskutierte.
Glaubt ihr mir, dass ich mich im Kreise meiner Studenten intellektuell stärker gefordert fühlte als in Oxford oder Harvard? In meinen Kursen waren zu jener Zeit größtenteils Studenten, die in verwahrlosten Lagern und Dörfern lebten oder gerade erst aus jahrelanger israelischer Haft entlassenen worden waren. Viele hatten noch Freunde oder Verwandte im Gefängnis, einige trauerten um ermordete Familienangehörige.War mein Studium der Philosophie und Literatur im Westen eine faszinierende, aber lebensferne Denkschule gewesen, so spürte ich hier, wie wichtig – ich will fast sagen lebennotwendig– das Studium für meine Studenten war: als Prophylaxe gegen das Hinunterschlucken des Grolls, gegen das Entweder- Oder von Resignation und Terror, gegen die Verzweiflung der Aussichtslosigkeit.
Bei der Lektüre von Shakespeares Hamlet oder Fanons Die Verdammten dieser Erde entzündete sich die Debatte immer wieder an einer bestimmten Frage:“Soll man sich mit Gewalt gegen die Besatzung wehren oder den Weg des gewaltlosen Widerstands gehen?”Jahre später sollte ich meine Antwort auf diese Frage zum ersten Mal niederschreiben. Nicht meinen Studenten, sondern meinen Kindern, in einem Brief, den ich aus dem Gefängnis verschickte, in dem ich saß. Aber wir greifen zu weit vor.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Zum ersten mal sehe ich den Konflikt aus dieser Perspektive und verstehe, dass der friedliche Protest eine grössere Bedrohung für die Existenz Israels darstellt als der gewalttätige, aber so macht alles Sinn. Sehr schön geschrieben, es liest sich wie ein Roman, dabei enthält es eine hochpolitische message.
Wahnsinnig schön geschrieben. Und so wahnsinnig traurig.