1.
Hallo … Haaaallo.
Funktioniert das Mikro? Hallo!
Ah, jetzt.
Warum ich die Schule abgebrannt habe? Direkt zur Sache, was?
Von mir aus, schließlich hab ich das ja nicht einfach so getan, bin ja
kein Psycho. Gut, nicht jeder kann den tieferen Sinn meiner Tat
nachvollziehen, aber ganz ehrlich, was kann ich für die Beschränktheit
einiger Dummköpfe? Damit meine ich nicht Sie, Herr Richter. Wenn Sie
erst erfahren, wie es dazu gekommen ist, werden Sie hundertpro auf
meiner Seite sein.
Als Erstes müssen Sie aber verstehen, dass das, was passiert ist,
passieren musste. Es war sozusagen eine Notwendigkeit – oder wie ich
es gerne nenne: ein Akt der Gerechtigkeit.
Um Sie wegen meines geistigen Zustands zu beruhigen, ich bin
nicht verrückt und auch nicht der Einzige, der es auf die Schule
abgesehen hatte. Kluge Köpfe, Professoren und so, wollten die
Schulen schon lange vor mir abschaffen. Okay, sie wollten sie nicht
anzünden, aber ganz ehrlich, wo liegt da der Unterschied? Hab die
Sache lediglich beschleunigt.
Die da haben übrigens auch ihren Teil dazu beigetragen. Ich
meine hier, meine Lehrer, erste Reihe. Sehen Sie die Frau dahinten mit
dem gelangweilten Blick, die für ihr Alter etwas overdressed ist? Da,Mann! Sehen Sie sie? Meine Englischlehrerin, Verzeihung, ehemalige
Englischlehrerin. Wussten Sie, dass sie von der Sechsten bis zur
Zehnten das gleiche Englischbuch benutzt? Ohne Scheiß jetzt, immer
dasselbe! Okay, ich bin jetzt kein Genie oder so, aber man muss mich
intellektuell auch nicht für tot erklären.
Wie, ich lenke ab? Hallo, ist doch wichtig, Mann!
Wie bitte? Ja, ich bin im Heim groß geworden. Steht ja auch in
meiner Akte. Und nein, vergessen Sie es. Ich werde jetzt nicht über
meine schwierige Kindheit reden, damit Sie mich in eine ihrer
Hollywood-kitschigen Psycho-Kategorien stecken können, als wäre
das alles nur passiert, weil ich ohne Eltern aufgewachsen bin.
Fickt euch!
Besser als von ihnen misshandelt zu werden und mich über Jahre
verzweifelt an der Vorstellung festzuklammern, dass sie mich trotzdem
lieben. Ja, ich bin im Heim groß geworden, und jetzt? Die Schule hätte
ich auch sonst in Brand gesetzt. So viel steht fest. Reduzieren Sie
meine revolutionäre Tat bloß nicht auf mangelnde Elternliebe, das
käme einer Beleidigung gleich.
So, das hätten wir dann mal.
Ich würde vorschlagen, dass wir uns aufs Wesentliche
konzentrieren und die Nebensächlichkeiten beiseitelassen. Das hohe
Gericht hat bestimmt auch keinen Bock, sich jedes Scheißdetail meines
Lebens anzuhören. Hier geht‘s doch um ein Strafdelikt, oder? Ja, ich
weiß zufällig, was „Strafdelikt“ bedeutet. Kann auch bis zehn zählen
und das Alphabet aufsagen.
Ist ja gut, ich soll zum Punkt kommen, okay, aber … Sie werden
gleich lachen. Ich muss es aber sagen, auch wenn es die Absurdität der
ganzen Angelegenheit noch vergrößert. Jaaa, auch dieses wunderbare
Wort ist mir geläufig und sogar ein Haufen anderer komplizierter
Begriffe, die Sie mir nicht zutrauen würden. Finden Sie sich endlich
damit ab. Jedenfalls, was ich sagen wollte: Ich habe die Schule auch
aus Liebe abgebrannt.
Nun schauen Sie mich nicht so entsetzt an. Dachte, Ihnen gefällt
das. Ihr liebt doch Liebesgeschichten. Was, zu fein für die
Liebesgeschichte eines Hauptschülers? Können vierzehnjährige
Hauptschüler keine – hier noch so ein großes Wort zum Abschluss –
profunde Liebesgeschichte zu erzählen haben? Ihr könnt mich mal!
Nicht Sie, Herr Richter, nur die Wichser hier!
Es wird eine Liebesgeschichte. Gut, ein wenig anders als die
Scheiße, die ihr von den amerikanischen Serien gewohnt seid, aber
eine echte Liebesgeschichte. Versprochen. Es soll jedoch nicht der
Eindruck entstehen, dass ich meiner großen Liebe irgendeine Schuld
zuweisen will. Sie hat damit nichts zu tun … zumindest nur ganz wenig,
denn der Literaturklub war ihre Idee, und wäre ich nie dort
hingegangen, hätte ich nie den verdammten Alfred kennengelernt und
säße heute nicht hier, verstehen Sie, was ich meine? Wie sie heißt? Ah,
jetzt interessiert Sie das plötzlich. Yasmin! Ach, Yasmin … aber eins nach dem anderen. Wir wollen
nichts überstürzen. Bevor wir anfangen, eine Sache noch. Schreiben
Sie sich das lieber auf. Werde irgendwie das Gefühl nicht los, dass Sie
es sonst vergessen. Bereit? Nun: Es gibt Millionen Gründe, Schulen
anzuzünden. Einer davon ist …
2.
Geduld, darauf kommen wir noch. Zuerst muss ich Ihnen unbedingt
erzählen, wie ich von der Schule geflogen bin. Also von meiner
vorherigen Schule, dieser Etepetete-Schule für neureiche
Bonzenkinder. Gott, bin ich froh, da raus zu sein!
Wenn Sie als Zehnjähriger von ihren Freunden getrennt werden
und aufs Gymnasium kommen, weil Sie bei einem landesweiten
Lesewettbewerb Jan, das Riesenarschloch, geschlagen haben, glauben
Sie bloß nicht, Sie hätten es geschafft. Meine Freunde kamen alle auf
die Hauptschule. Und das mit zehn! Unfassbar, oder? Sie hätten
Nobelpreisträger werden können. Aber Frau Krubauer, nennen wir sie
ruhig „das Monster“, war da anderer Meinung. Hab ich schon erwähnt,
dass meine Freunde Genies sind? Ohne Scheiß jetzt. Richtige Genies!
Zum Beispiel Nima, neben mir der zweite Iraner in der Gruppe. Ein
begnadeter Mathematiker. Der besucht heimlich Mathevorlesungen
an der Uni Köln. Für etwas Geld schreibt er den Bonzen da sogar ihre
Klausuren. Meinen Sie, so ein Brain hatte jemals Bock, sich im
Unterricht zu beteiligen? Gut, bei Diktaten hat ihn sein analytisches
Denken aus irgendeinem Grund immer im Stich gelassen. Keine
Ahnung, warum. Schaffte es einfach nicht, die Kommas an die
richtigen Stellen zu setzen, und natürlich versäumte es Frau Krubauer
nie, ihn vor der gesamten Klasse bloßzustellen: „Die deutsche Grammatik ist doch kein Wunschkonzert, Nima! Also ehrlich, kannst
du überhaupt unsere Sprache? Unglaublich.“
Diese Fotze! Nach der Vierten brachte Nima es dann auf zwei
Fünfen in den Hauptfächern. Ab auf die Hauptschule.
Joe, seine Familie kommt aus der Elfenbeinküste, ist der größte
Wissenschaftler. Scheiße, der Junge konnte schon im Kindergarten aus
ein paar herumliegenden Ästen und Seilen ein überkrasses Baumhaus
bauen. In der zweiten Klasse entwickelte er dann ganz alleine eine
komplexe Konstruktion, die das Baumhaus in ein Raumschiff
verwandelte. Fragen Sie mich nicht, wie das geht. Das weiß keiner,
Genies halt. In der Schule war er eigentlich der Beste, deutlich besser
als ich, und ich meine: in allen Fächern der Beste, ausnahmslos!
Als Frau Krubauer, pardon, „das Monster“, Joe irgendwann zu
einer Sache befragte, passierte etwas Krasses, das ich jetzt nicht
erzählen möchte, weil es echt zu lange dauern würde. Will Ihnen die
Jungs ja nur kurz vorstellen und Sie nicht zutexten. Jedenfalls ging es
um Bücher, die Frau Krubauer vergöttert, und um bestimmte Wörter,
die darin vorkommen. Joe war anderer Meinung als sie, und da hat die
Fotze ihn böse gelinkt. Das Genie wurde immer ruhiger, und plötzlich
war Joes Streberkarriere vorbei. Joe schaffte drei Fünfen in den
Hauptfächern. Ab auf die Hauptschule.
Timuçin, für sprachbeschränkte Deutsche: Timu, ist halb Deutscher
und halb Türke, sieht aber wie ein Mongole aus, finde ich. Gut,
Timuçin war nie gut in der Schule. Mathe und Deutsch bereiteten ihm
Kopfschmerzen. Allein beim Gedanken daran, ein Diktat zu schreiben,
brach der Arme zusammen. Doch haben Sie schon mal ein Bild von
ihm gesehen? Scheiße, der Junge steckte Picasso und da Vinci schon
mit fünf in die Tasche. Unsere Kunstlehrerin Frau Maier vergötterte
ihn, hielt ihn für die Reinkarnation Michelangelos, nannte ihn das
Wunderkind einer neuen Malergeneration, die die Kunstwelt
verändern wird. Während wir mühsam irgendwelche Kreise kringelten,
malte Timuçin so nebenbei die wunderbarste Eigeninterpretation von
van Goghs Sternennacht. Was er mit dem Pinsel kann, ist unersetzbare
Kunst, und ich rede nicht von dem Scheiß, den die Leute als moderne
Kunst bezeichnen, und damit meinen sie dann angepisste Bilder oder
willkürlich gesetzte schwarze Punkte auf riesigen Leinwänden.
Verdammt, ich rede von Kunst! Verstehen Sie mich? Unersetzbare,
wahre Kunst.
Timuçin brachte es auf ungeschlagene fünf Fünfen in fast allen
wichtigen Fächern. Frau Maier brach in Tränen aus, als man ihn nicht
auf eine Kunstakademie schickte. Tja, so ist das Leben, Frau Maier.
Ab auf die Hauptschule.
Sehen Sie. Einer von Millionen Gründen, warum man Schulen
verbrennen sollte: Kunst hat dort nichts zu suchen. Machen wir uns
nichts vor: Wenn Kunst zu einem Schulfach wird, können Sie sie
genauso gut für tot erklären.
Was ich eigentlich sagen wollte: Alle meine Freunde waren weg. *
*
„Ich weiß, du bist sehr traurig, dass deine Freunde nicht aufs
Gymnasium dürfen, aber sieh es positiv, Amiaa, einer von euch hat es
ja geschafft“, sagte „das Monster“, als ich mein Zeugnis abholte,
während Nimas Mutter auf dem Flur Frau Krubauers gesamter
Sippschaft den Tod wünschte. „Wer hätte gedacht, dass du den
Lesewettbewerb gewinnen könntest. Ich war sprachlos. Wirklich, eine
achtbare Leistung, Amiaa. Wenn du die Sprache kannst, dann stehen
dir alle Türen offen. Im Gymnasium bist du sehr gut aufgehoben …“
Diese dumme Funz konnte nach vier langen Jahren meinen
Namen immer noch nicht richtig aussprechen. Amir! Amir! Amir!
Herrgott noch mal, vier verdammte Buchstaben und die hohle Nuss
schaffte es trotzdem, ein A zu erfinden, das R verschwinden zu lassen
und meinen Namen vier verschissene Jahre lang zu vergewaltigen.
Ich kam also ins schillernde Schiller-Goethe-Gymnasium, in dem der
Ausländeranteil auf einem Minimum gehalten wird, damit die Eltern
der alt- und neureichen Deutschen nicht nervös werden und ihre
Kinder in irgendwelche Internate stecken. Darauf ist die Schulleitung
übrigens besonders stolz.
Gott, da hab ich es fast vier Jahre ausgehalten. War ein richtig
vorbildlicher Scheißer. So ein Pfadfinderbursche, der immer seinen
Kompass dabeihat. Die ersten Jahre war ich Mister Maxmustermann.
Eine grauenvolle Zeit, bekomme wieder Gänsehaut, wenn ich an
diesen Typen denke. Diesen Schleimscheißer, der jedem zeigen wollte,
dass er nicht der dumme Kanake ist, für den die Bonzen ihn eh hielten.
War mir damals megawichtig.
Können wir diese Phase überspringen, Herr Richter? Bitte. Voll
peinlich.
Warum ich dort rausgeflogen bin, ist ja aktenkundig. Hab drei
Monate die Schule geschwänzt. So die offizielle Version, oder eher die
zurechtgerückte.
Das war in der Achten beim Schwimmunterricht. Sie werden’s mir
eh nicht glauben, aber ich erzähl’s trotzdem mal. Ich verpasse die Bahn
um halb acht und schaffe es nicht rechtzeitig ins Hallenbad. Bin
natürlich nicht der Einzige. Oliver, ein Skater aus meiner Klasse, der
Bob-Marley-T-Shirts trägt und wie Harry Potter aussieht, kommt auch
zu spät. Wir laufen also beide in die Umkleidekabine, ziehen uns um
und springen unter die Dusche. Oliver pisst sich in die Hose, dass wir
zu spät sind. Sie wissen ja, wie die Deutschen ticken, schön pünktlich
sein, sonst könnte ja die Welt untergehen.
Feuchtet sich also nur kurz die Haare an und sprintet in die Halle.
Ich warte immer, bis das Wasser heiß läuft. Ich hasse es, kalt zu
duschen. Doch er hat mich mit seiner Panik angesteckt, und dreißig
Sekunden später bin ich auch schon draußen. Der Schwimmlehrer hält
eine kurze Standpauke, und wir können dann zu den anderen ins
Becken. Nach dem Unterricht ziehen wir uns gerade um, als es plötzlich
einen Riesenaufschrei gibt. Fünf Portemonnaies wurden gestohlen,
darunter auch meines. Alle sind megawütend. Warum man bitte
während des Unterrichts nicht die Kabinentür versperrt, beschweren
wir uns. Der Schwimmlehrer weiß nicht weiter, versucht uns zu
beruhigen, doch ich denke die ganze Zeit, dass meine zehn Euro weg
sind, dass wir bis vier Uhr in der Schule hocken und ich noch nichts
gegessen habe. Schlimmer hätte der Tag nicht anfangen können.
Kaum sind wir dann in der Klasse, merke ich, wie man hinter
meinem Rücken tuschelt und mir misstrauische Blicke zuwirft. Kein
Plan, was das soll.
„Was glotzt ihr so?“
„Du bist als Letzter in die Halle gekommen“, sagt Jan, der Hund.
Was für ein Zufall, dass ich mit ihm in einer Klasse gelandet bin,
nachdem ich ihm beim Lesewettbewerb den Hintern versohlt habe. Er
steht mit seinen tomatenroten Wangen, der kleinen Schweinenase und
dem goldblonden Haar vor mir, als wäre er gerade eben einer
Kinderschokoladenpackung entsprungen. Hinter ihm sammeln sich
Charlotte, Eva, Thomas und Pascal. Alle schauen mich vorwurfsvoll an,
als hätte ich ihre Portemonnaies zu meinen Zigeuner-Freunden
gebracht, die vor unserer Schule Kippen rauchen und für die Schüler
des Schiller-Goethe-Gymnasiums der Inbegriff des sozialen
Abschaums sind. Alles passt.
„Bin mit Oliver reingekommen, wir waren beide zu spät“, beteuere
ich wie ein Versager, der ernsthaft meint, sich noch rechtfertigen zu
müssen.
„Nein, Oliver war früher als du da, hast dir richtig Zeit gelassen,
kamst erst fünf Minuten später!“
„Fünf Minuten?!“, schreie ich. Einem weitverbreiteten
psychologischen Mythos zufolge enttarnt sich derjenige als
Schuldiger, der sich bei einem Vorwurf laut aufregt. Keine Ahnung, wie
sich der Mist durchsetzen konnte. Jedenfalls ist es das Argument, auf
das sich meine Lehrerin stützt.
„Du musst ja nicht wütend werden, Amiaaa. Haben wir etwa was
zu verbergen?“, heuchelt sie Betroffenheit, obwohl ihre Meinung
längst feststeht. Noch mehr als Frau Krubauer liebt es meine neue
Lehrerin Frau Grünewald das A in die Länge zu ziehen, als wollte sie
ihren erfundenen Namen besingen. „Ist doch okay, gib die Sachen
einfach wieder zurück, und alles ist vergessen.“
Ich denke, ich bin im falschen Film. „Aber ich habe sie nicht
gestohlen! Meine Brieftasche ist auch weg. Wieso werde ich als Erster
verdächtigt? Das können Sie nicht machen!“
Wie gern wäre ich damals vulgärer gewesen, wie gern hätte ich
mehr Kraftausdrücke gekannt, wäre mit mehr Hauptschülern
befreundet gewesen. Ja, hätte einen regelmäßigeren Umgang mit der
Sprache der Wut gepflegt, statt Bücher zu lesen, deren obszönste
Ergüsse in „Mist“ und „Arsch“ gipfelten, einfach nur lächerlich.
Man unterschätzt die Obszönität. Wenn sie sich mit dem Zorn paart,
entwickelt sie eine eigene poetische Kraft, die geradewegs aus der
Seele spricht. Der Traum eines jeden Dichters.
„Amiaar, bitte, du bist als Letzter zum Schwimmunterricht
gekommen, hast dir viel Zeit gelassen. Es ist doch naheliegend, dass
wir vermuten, du hättest die Sachen gestohlen.“
Der verlorene Sohn war zurückgekehrt: das R in meinem Namen.
Wo hast du nur gesteckt? Doch bei der Aussprache wusste ich nicht,
ob es nicht für alle das Beste gewesen wäre, das R wäre für immer
verschollen geblieben. Hinzukam dieser herablassende Unterton, den
sie oft bei mir anschlug, als wäre ich schwachsinnig. Selbst wenn sie
mich lobte, klang immer dieser Unterton mit. „OOHH, seeehr gut
gemacht, Amiaaa. Alle sollten sich ein Beispiel an Amiaaa nehmen …
Nie macht er einen Grammatikfehler, würde man gar nicht denken.“
Dem Ausländer bloß nicht das Gefühl geben, ausgeschlossen zu
sein. Wir lieben den kleinen Ausländer. Komm, lass dich tätscheln.
Dumme Schlampe!
„Sie vermuten nicht, Sie beschuldigen mich. Tun Sie nicht so! Alle
hier meinen, ich hätte die Brieftaschen gestohlen. Ich habe es aber
nicht getan. ICH HABE ES NICHT GETAN!“
Ich hasse es, wenn mir die Tränen kommen. Will sie unterdrücken,
aber es ist sinnlos.
„Du warst aber als Letzter …“
„Ach, FICKT EUCH!“
Eine Befreiung. Poesie der Sprache. Traum eines jeden Dichters.
Ich rammte die Tür auf – so wie man es von einem schuldigen
Ausländer eben erwartet: asozial, uneinsichtig, brutal – und rannte aus
der Schule. Ich schwor mir, nie wieder einen Fuß in diesen
Scheißhaufen zu setzen.
Einige Zeit später kam dann raus, dass einer aus der Zehnten die
Portemonnaies gestohlen hatte. Er war während des
Schwimmunterrichts in die Umkleidekabine geschlichen (die ja auch
offenstand!) und hatte alles mitgehen lassen. Wenn ich jetzt so
darüber nachdenke, hat mir das Arschloch sogar einen Gefallen getan.
Wie sonst wäre ich auf die Idee gekommen, dass nur eine brennende
Schule eine gute Schule ist?
Denken Sie mal darüber nach.
Mein Wegbleiben vom Unterricht geheim zu halten, war relativ
einfach. Jeden Morgen stand ich um sieben auf und tat so, als ob ich
zur Schule ging. Fuhr aber natürlich in die Stadt. Meistens lungerte ich
in irgendwelchen Boutiquen und Kaufhäusern rum. Ich mag es, mir
neue Produkte anzuschauen. Wie sie in den Vitrinen glänzen, den
Kunden das Gefühl geben, ohne sie wäre ihr Leben so viel ärmer, das
beflügelt meine Fantasie. Ich stelle mir dann vor, wie ich mir die
Sachen als reicher Mann kaufe. Der Erste bin, der sie in den Händen
hält, sie ihrer Unschuld beraubt. Wie oft denken Menschen wohl
darüber nach, wie es wäre, reich zu sein?
Irgendwie muss man sich ja die Zeit vertreiben.
Später ging ich dann in die Stadtbibliothek und las Bücher, bis
meine Freunde frei hatten. Die Einzige, die mich während dieser
friedlichen Phase der Unbekümmertheit unfassbar nervte, war die
dumme Rezeptionistin am Empfang der Bibliothek. Nach drei Wochen
wurde sie auf mich aufmerksam und fragte hin und wieder, ob ich
nicht zur Schule müsse. Ich hatte immer eine andere Ausrede parat.
Meist tat ich so, als ob ich für ein Schulprojekt arbeitete, eine wichtige
Angelegenheit, beteuerte ich, die viel Recherchearbeit erfordere. Aber
sie ließ nicht locker:
„Die Verwandlung als Schulprojekt? Macht man das schon in der
Mittelstufe? Und dann noch eine achthundertseitige Kafka-Biografie,
nicht schlecht. Wie heißt deine Schule noch mal? Über George Orwell
machst du wohl auch ein Projekt? Ist das nicht Oberstufenlektüre? Wie
alt bist du eigentlich?“
„Entschuldigen Sie, aber das geht Sie überhaupt nichts an. Habe
ich was verbrochen, oder wieso belästigen Sie mich?“
„Oho, ist ja gut, der feine Herr, nicht gleich ausflippen. Vergessen
Sie nicht, die Bücher wieder da hinzustellen, wo Sie sie gefunden
haben.“
„Ja, mach ich!“ Maaaann, haben diese Menschen kein Leben?
Die Anrufe aus der Schule hatte ich mehr oder weniger im Griff. Der
Trick war, in der Schule anzurufen, bevor sie dich anriefen. Einmal in
der Woche telefonierte ich mit dem Sekretariat. Die Stimme verstellt
und im Wortlaut dieser Vollidioten von Möchtegernpädagogen
meldete ich mich regelmäßig krank. Das war ein Kinderspiel. Ich
wechselte zwischen hohem Fieber, Mandelentzündung, plötzlicher
Übelkeit und Erkältung und nahm manchmal sogar erfundene
Krankheiten wie Phylothramatie, um einen Schock zu provozieren:
„Oh, mein Gott, ist sie heilbar?“ – „Ja, keine Sorge, in den Fünfzigern
sind die Menschen noch dran gestorben, aber heute nicht mehr, alles
halb so schlimm.“
Einmal hatte ich Glück. Mein Kumpel Massimo nahm zufällig den
Hörer ab, als meine Klassenlehrerin persönlich im Heim anrief, und
gab sie direkt an mich weiter. Ich tat auf krank, aber ich glaube, sie
ahnte was, denn sie wollte unbedingt mit meinen Erziehern reden. Hab
echt lange gebraucht, um sie abzuwimmeln.
Bevor Sie fragen, Herr Richter: Ja, ich wusste, dass das nicht ewig
so weitergehen konnte. Aber was soll‘s, dachte ich, schauen wir, wie
lange die Dumpfbacken brauchen, um es herauszufinden. Und
glauben Sie mir, die brauchten lange, verdammt lange. Meine Lehrerin
musste erst bei der Heimleitung antanzen, als die Sache irgendwann
anfing zu stinken, bis sie es endlich checkten. Nachdem alles
aufgeflogen war, hatten sie natürlich den perfekten Grund, mich
rauszuschmeißen. Und das war mir auch ganz recht.
Scheiß drauf.
„Was für Huuuurensöööhne!“, war das Erste, was Nima sagte, als ich
aus der Schule weglief und mich mit meinen Freunden im Park traf, wo
wir seit der Sechsten kifften.
„Rache, Bruder, diese Nazi-Hurensöhne.“
„Ja, Mann! Das Krasse ist, denen war es egal, dass meine
Brieftasche weg war, zehn Euro, Alter, zehn Euro!“
„Nazis, einfach nur Nazis“, stimmte Joe gelangweilt zu und legte
die Sache zu den Nazi-Akten.
Eine Woche nach meiner endgültigen Entlassung bekam ich einen
Brief von Frau Grünewald, in dem sie sich in aller Form für die
ungerechten Anschuldigungen entschuldigte. So erfuhr ich auch, dass
es der Zehntklässler gewesen war, dem selbstverständlich eine
Klassenkonferenz bevorstehe, wie sie durch drei Ausrufezeichen
hervorhob, als würde es mich interessieren. Ich zeigte es den Jungs.
„Nazis, einfach nur Nazis“, sagte Joe.
„Jetzt auf Mitleidstour. Erst als Dieb beschuldigen und dann
sagen: Ohh, es tut uns leid, ohh, fickt euch! Ganz ehrlich jetzt, scheiß
auf die, Amir.“ Timuçin sprach mir aus der Seele.
„Hör zu, Mann, lass die Wichser fertigmachen, ich mein das total
ernst, Alter. Lass diese Gymi-Schwuchteln ficken, Mann!“ Nima war
richtig aufgebracht: „Hab‘s dir letztens schon gesagt: Rache, Bruder, RA-
C-H-E! Weiß auch genau, wie wir es anstellen. Wollte eigentlich
nichts sagen, aber nach diesem Brief … Altaaa, überall nur Nazis, egal
wo man hinschaut, gestern auch wieder, steh ich so an der
Bahnhaltestelle, chill mein Leben, und plötzlich kommt so‘n alter SSSack
und meint …“
„Komm zum Punkt“, sagte Joe.
„Was denn?“
„Wie wir sie ficken sollen.“
„Ficken? Ach so, ja, hört zu, wir ficken ihre Sporthalle. Hab‘s schon
mal mit den AKS-Jungs in einer Realschule abgezogen. Die haben
einen von ihrer Gang rausgeworfen, weil er zu oft geschwänzt hat.
Reinkommen ist easy. Ey, perfekt, und dann lasst auch mal direkt ein
paar anderen Homo-Schulen ’nen Besuch abstatten, ist ja schließlich
ein nationales Problem. Bolzenschneider, und die Sache flutscht.
Drinnen können wir uns dann richtig austoben. Leute, ist mir
scheißegal, der Basketballkorb und die Fußballtore gehören mir. Wenn
ich mit denen fertig bin, werden sie eine neue Sporthalle brauchen.
Für Graffitis ist unser Künstler verantwortlich. Mach aber was Lustiges
draus, Timuçin, das soll hier kein Scheißkunstwerk werden.“
„Vertrau mir, Bruder.“
„Matten und Fenster können Joe und du zerstören. Wenn euch
was Besseres einfällt, einfach machen, lasst eure Fantasie spielen“,
sagte Nima, total in seinem Element: „Stell dir vor, was für ’ne Fresse
sie ziehen, wenn sie morgen die Halle betreten, hahaha!“
„Ich weiß nicht, Mann …“ Die Pussy mit Bedenken war ich.
„Alter, was glaubst du, warum die dich beschuldigt haben?
Glaubst du, es lag daran, dass du dich um ein paar Minuten verspätet
hattest …“
„Dreißig Sekunden!“
„Eben!!! Diese Wichser haben es auf uns abgesehen, auf uns alle!
In der Grundschule wurden wir selektiert, und jetzt haben sie dich
auch auf ihre Selektionsliste gekriegt. Sie haben es dir nie verziehen,
dass du sie auf ihrem Feld geschlagen hast …“ Nima machte eine kurze
Pause, als wäre ihm was eingefallen. „Weißt du noch, wie der Jan
geheult hat, als er beim Lesewettbewerb Fünfter wurde, hahaha, ich
konnte nicht mehr! Was für ein Lutscher!“
„Echt, dieser Pisser. Bruder, du hast den Deutschen die Sprache
gestohlen. Hast sie ihnen einfach weggenommen. Klar, wollen sie dich
dafür ficken!“, stimmte Timuçin Nima zu.
„Ich weiß nicht, ich glaube, ihr kifft zu viel. In letzter Zeit hast du
immer irgendwelche Verschwörungstheorien am Start, Nima. Wie war
das letzte Woche: Juden haben den 11. September durchgezogen, weil
sie die Weltherrschaft an sich reißen wollten, und Deutschland ist ein
amerikanisches Unternehmen, war da nicht was? Hat er das nicht
gesagt, Joe?“
„Jaja, geh nachschauen.“
„YouTube tut dir nicht gut, Bruder, ehrlich jetzt. Auch wenn du gut
mit Zahlen kannst. Glaub, die Sache ist weit harmloser, als du denkst.
Sie hat sich ja entschuldigt. Ich denke, wenn ich mit ihr rede …“
23
„Alter, schau dich mal um. Was für Verschwörungstheorien? Hat
man dir ins Gehirn geschissen? Hab jetzt keine statistische
Untersuchung durchgeführt, aber geh an jede verdammte
Hauptschule und schau dir mal die Köpfe an, was siehst du da?“
„Schüler?“
„Kanaken, Schwarzköpfe, auf gut Nazi-Deutsch: Scheißausländer.
Du weißt, dass ich mit Zahlen gut kann. Wusstest du, dass mittlerweile
an den meisten Hauptschulen – ich will mal wie diese Pussys politisch
korrekt sein – Kinder mit Migrationshintergrund die Mehrheit bilden?
Sag mir mal, wie es kommt, dass in unserem beschissenen
Schulsystem, ausschließlich in der Hauptschule eine Minderheit die
Mehrheit bildet?“
„Ja, Mann! Bei uns sind die Deutschen die Ausländer. Hier sind sie
die Nigga!“, lachte Timuçin und wollte Joe High five geben, aber der
starrte ihn nur ausdruckslos an.
„Alter, American History X, der Film, Mann“, sagte er.
„Willst du mir ernsthaft klarmachen, dass alle diese Kinder sooo
dumm waren und es deshalb nicht aufs Gymnasium geschafft haben?
Von der Real- oder Gesamtschule rede ich gar nicht. Das sind
Kompromissschulen, die eine ist eine Möchtegern-Hauptschule und
die andere ist ein Möchtegern-Gymnasium, eigentlich gibt es nur zwei!
Unten und oben. Und rate mal, wo wir stecken?“
Das Mathegenie zog demonstrativ an dem Joint, den er gerade
angezündet hatte.
„Das Kiffen lässt mich klarer sehen, Bruder. Ich kann dann sogar
besser rechnen als vorher. Letztens hab ich mal so auf der Toilette für
‘nen Zehntklässler seine Klausur geschrieben. Okay, ein
Hauptschulzehntklässler, nicht gerade höhere Mathematik. Von der
Fünften bis zur Zehnten lässt man uns sowieso nur Bruchrechnung
machen. Den Hauptschüler bloß nicht fordern, schön dumm halten.
System, Bruder, System!“
Nima fuchtelte mit dem Joint herum, als wollte er seine Worte
unterstreichen, ihnen Gewicht verleihen.
„An der Uni sind die Schwachköpfe zwar nicht besser, aber da ist
es auch egal, auf welcher Schule du warst. Ach, vergiss die Uni! Für
‘nen Hauptschüler ist sie so realistisch, wie irgendwann Bundeskanzler
zu werden. Sie glauben, Abitur sei ausschließlich Menschen
vorbehalten, die von einer höheren Macht auserwählt worden sind.
Richtig krank, Alter. Eher denken sie an eine Dealer-Karriere als an das
Scheißabi. Krieg das endlich in deinen dummen Schädel: Es ist das
verschissene System und dagegen muss was unternommen werden.
Ist doch logisch, Mann. Wenn sie uns schon wie die letzten Juden in
die Hauptschul-KZs stecken, müssen wir uns zumindest revanchieren
können. Wir ficken ihre Sporthallen, basta. Brauchen die sowieso nicht.
Spielen eh wie die letzten Tunten Fußball, können ja Geigenunterricht
nehmen, passt eher zu ihnen … also, wie sieht’s aus? Bist du dabei,
oder ziehst du den Schwanz ein?“
25
Na ja, was soll ich sagen? Wir waren junge, gutgläubige Idealisten, die
nur das Beste wollten, unfähig, das große Ganze zu überschauen. Ich
meine, Sporthallen? Ich bitte Sie.
Aber ein Anfang.
Die Sache wäre ein voller Erfolg gewesen, wenn man mich nicht
erwischt hätte. Ich meine, wer hätte denn wissen können, dass der
Hausmeister des dritten Gymnasiums, in das wir eingebrochen waren,
in einem kleinen Häuschen auf dem Schulhof wohnte? Ganz ehrlich,
keiner!
Die Jungs kletterten gerade über das Gittertor, um zu
verschwinden, als mir der Gedanke kam – keine Ahnung warum,
irgendwie fand ich es lustig –, den Mülleimer umgedreht auf die
Tischtennisplatte zu stellen und ihn anzupinkeln. Allein die
Vorstellung, wie sie am nächsten Tag den Eimer wieder an seinen Platz
stellten und plötzlich merkten, dass ihre Hände nach Pisse stanken,
genügte als Motivation. Es sollte schnell gehen. Kurz ablassen und
verschwinden. Ich sprang also auf die Tischtennisplatte, schloss die
Augen und ließ den Strahl über den Eimer gleiten. Die warme
Flüssigkeit dampfte in der Dunkelheit. Ein Schauer der Erleichterung
lief mir den Rücken herunter. Viel Genugtuung lag in diesem Akt. Man
könnte es Glück nennen oder Gottes gerechte Strafe. Den Hals leicht
in den Nacken gelegt, schaute ich zum Himmel auf. Am Firmament
leuchteten kleine Sternchen wie an einem Weihnachtsbaum.
In der darauffolgenden Sekunde spürte ich nur noch, wie eine
kräftige Hand, eher eine Pranke, nach meinem Arm griff. Ich verlor die
Kontrolle über meinen Penis, der Urinstrahl schoss in alle
Himmelsrichtungen, während mir von Weitem die Stimme meiner
Freunde ins Ohr drang: „Du Voooooolliiidiioooot, hiiiiiiinteeeer diiiiir!“