Wenn Schopenhauer recht hatte, vollzieht sich jede zivilisatorische Entwicklung in drei Schritten: Erst verlacht man das Neue, dann bekämpft man es, und schließlich ist es akzeptiert.
Frauenwahlrecht verlachte, bekämpfte, akzeptierte man.
Hört sich einfach an, ist es aber nicht.
Denn jeder Entwicklungsschritt kann der letzte sein. Jahrhunderte können vergehen, bis Schritt eins zu zwei zu drei führt. Als Olympe de Gouges ihr Manifest über die Rechte der Frauen formulierte, war sie ihrer Zeit weit voraus und nahm den Feminismus vorweg. Zwei Jahre nach ihrer revolutionären Schrift erwartete sie die Guillotine.
Schritt eins erfolgte 1791 und endete mit de Gouges Tod. Schritt zwei kam 1968. Nach dem dritten Schritt vergisst man oft, wie schwer die vorherigen zwei waren. Hatten Frauen nicht schon immer ein Wahlrecht?
Mhm … denk schon … oder?
Ähnlich verhält es sich mit der Integrationsdiskussion. Wenn überall vom Rechtsruck die Rede ist, vom Einzug der AfD in die Parlamente, von brennenden Asylbewerberheimen und marodierenden Nazis, ist es schwer zu glauben, dass wir uns längst mitten im Schritt zwei befinden und hoffentlich bald mit dem dritten Schritt zu Potte kommen. Heißt: diese Debatte hinter uns lassen.
Eine kurze Geschichte der Integration
Seit meiner Jugend in den 90er-Jahren bestand die Integrationsdebatte immer aus einem Mischmasch an Themen, die im Kern nicht zusammenhingen. Gefühlt in jeder Bundestagswahl ploppten aus irgendeinem bayrischen oder sonstigen Strebergarten ein paar verbitterte CSUler oder CDUler und polterten „Mehr Deutsch! Mehr Integration!“
Die deutsche Sprache, das Lieblingsthema der Konservativen.
Wenn nicht Sprache, dann Jugendkriminalität. Schlugen ein paar gelangweilte Großstadt-Kids einen alten Opa krankenhausreif, konnte man sicher sein, dass am nächsten Tag jede Talkshow ihren Senf zum Thema Integration gab. (Unsere Werte! Verrohte Jugend! Unsere Werte!)
Nach dem 11. September überholte der Islam die deutsche Sprache und die Kriminalität und sprintete durch alle Kanäle. Schwachsinnige Fragen wie „Gehört der Islam zu Deutschland?“ wurden ernsthaft diskutiert. Als könnte ein Ja oder ein Nein irgendetwas daran ändern, dass Millionen deutsche Muslime hier leben, lieben, sterben. Hauptsache man stellte die Frage.
Danke für nichts.
Während meines Studiums erreichte die Debatte um Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ ihren bittersten Höhepunkt. Darin behauptete der ehemalige Berliner Finanzsenator, Deutschland würde dümmer werden, wenn Menschen aus islamischen Kulturkreisen einwanderten.
Weil ja Berlins Bildungsniveau während Sarrazins Amtszeit alle Bundesländer bei weitem überflügelte, lag ihm das Thema Bildung besonders am Herzen. Die Paranoia-Hypothese (Deutschland würde sich abschaffen) hing eng mit seiner Vorstellung von Intelligenz zusammen.
Sarrazin sieht die Intelligenz nämlich als größtenteils bis vollständig genetisch bedingt (80 % – 100 %) und schlägt sogar vor, gutbetuchten Akademikereltern Geldprämien zu schenken, wenn sie Kinder bekommen.
Hach! Die SPD, immer für die Underdogs.
Messerscharf weist der ehemalige Senator auf Statistiken hin, die die schlechten schulischen Leistungen bei Minderheiten aus islamischen Ländern belegen. Aha! Wusste er’s doch. Die islamische Kultur unterdrückt die Intelligenz! Dagegen muss was getan werden!
Ja, das war noch vor der AfD.
Eine verpasste Chance
Dabei fragt sich in der Intelligenzforschung seit Jahrzehnten niemand mehr, ob Intelligenz erblich oder kulturell bedingt ist. Die Diskussion hatte man schon zu Sarrazins Zeit überwunden. Vielmehr versucht man zu verstehen, wie die Wechselwirkung zwischen Kultur im weitesten Sinne und Biologie abläuft.
Der Fachbereich Epigenetik ist in diesem Zusammenhang ein faszinierendes Beispiel. Sie befasst sich damit, wie und warum bestimmte Genmuster aktiviert werden, wenn sich die Umwelt (Ernährung, Sport, Bildung, Liebe, Armut etc.) verändert. Sagen wir, ihr würdet ab morgen ins Fitnessstudio gehen. Schon beim Training beginnen eure Epigene (wörtlich übersetzt Neben-Gene) Impulse an die Muskelgene weiterzuleiten. Wie Lichtschalter bringen sie die inaktiven Gene damit zum Leuchten. Heute können Epigenetiker genau zeigen, wie das funktioniert. Dieser Prozess nennt sich DNA-Methylierung.
Genetiker haben lange Zeit geglaubt, Gene können nicht von der Umwelt beeinflusst werden. Das ist vorbei. Schon lange.
Jedes Lernen ist ein epigenetischer Prozess, der direkt auf die Gene einwirkt
Nun zur Intelligenz. Der Psychologe Anders Ericsson, einer der renommiertesten Forscher im Bereich Höchstleistungen, spricht deshalb davon, Intelligenzpotenzial zu entwickeln statt auszuschöpfen. Intelligenz ist eben kein Brunnen mit einem klar festgelegten Wasserspiegel. Sie ähnelt eher einem Bach, der sich durch Regenwasser (Umwelt) zu einem See entwickeln kann. Niemand bestreitet die Rolle von Genen, aber entscheidend ist eben die Wechselwirkung.
Wieso ist das für die Integration wichtig?
Hätte Sarrazin echte Vorschläge gemacht, wie wir gesellschaftlich die Intelligenz oder die schulische Leistung der benachteiligten Gruppen entwickeln können, wäre es eine fruchtbare Diskussion geworden. Wir hätten über Bildungsmodelle reden können, die den wissenschaftlichen Befunden Rechnung tragen. Die sich an Lernpsychologie, Neurowissenschaft und Epigenetik orientieren. Wir hätten über alles, aber nicht über Religion oder Werte geredet. So mussten wir in alten Diskussionsmustern verharren und haben eine echte Chance verpasst.
Wie so oft.
Ein Wechsel bahnt sich an
Die Folge war eine vergiftete Debatte, in der den Sarrazin-Anhängern von links rassistisches Gedankengut vorgeworfen wurde, ohne zu erklären, wie eine annehmbare Alternative aussehen könnte.
Es blieb der Eindruck, der Mann habe eine schonungslose Wahrheit ausgesprochen, die den armen Linken nicht in den Kram passte.
Zu dieser Zeit spürte ich eine Veränderung. Viele Freunde von mir zogen sich zurück und schalteten auf Durchzug. Andere wurden zu Aktivisten, rackerten sich wie verrückt am Thema Integration ab. Oft vernahm ich hinter dem Engagement einen tiefsitzenden Schmerz. Aber auch eine rastlose Wut.
Wiederum andere wollten mit „Deutschen“ nichts mehr zu tun haben, nicht wenige wanderten aus oder blieben unter sich. Doch egal für welchen Weg man sich entschied, vor Sarrazins Zweiteilung waren sie nicht mehr geschützt:
Guter Migrant, böser Migrant.
Rückblickend war das der eigentliche Sieg von Sarrazin. Er hatte es geschafft, eine längst widerlegte These zur Intelligenz in die Integrationsdiskussion einzuführen und damit als Realist durchzugehen. Man beklatschte oder hasste ihn. Das war aber unwichtig. Wichtig war, dass wir alle über ihn redeten.
Sarrazin bestimmte den Diskurs.
Es war der Beginn des zweiten Schritts und die Konflikte kochten hoch.
Armut und Integration
Auch ich begann darüber zu schreiben. Als ich mich später mit dem Thema Armut auseinandersetzte, offenbarte sich mir nach und nach ein interessantes Muster. Wo treten Sprachprobleme, Kriminalität und Bildungsversagen am häufigsten auf? Nein Thilo, nicht in islamischen Kulturen, sondern in der Armut.
Dass Armut unsere Intelligenzleistung verringert, zeigte der Armutsforscher Eldar Shafir. Er spricht von einer Knappheitsmentalität, in der arme Menschen gefangen sind, wodurch deren Intelligenz um fast 15 Punkte abnimmt. Arbeiter aus der sozialen Unterschicht denken vor allem für den nächsten Tag, höchstens für den nächsten Monat. Ihr Gehirn ist so belastet, dass sie nicht strategisch in die Zukunft planen können, sondern nur taktisch kurzfristig, also in knappen Zeiträumen. Das führt dazu, dass sie oftmals dümmere Entscheidungen treffen, was wiederum zu dem Vorurteil führt, Arme seien dumm.
Kommen wir zur Sprache.
Betty Hart und Todd Risley von der University of Kansas fanden heraus, dass Kinder aus armen Familien bis zum vierten Lebensjahr 32 Millionen Wörter weniger gehört haben als Kinder aus Akademikerfamilien. Das Vorlesen, Reden, Diskutieren und Auf-sprachliche-Fehler-aufmerksam-Machen sind Gewohnheiten, die in Unterschichtfamilien kaum genügend ausgebildet werden. Das verschafft ihren Kindern in der modernen Welt einen Wettbewerbsnachteil, den sie später kaum aufholen können.
Die Pionierarbeit der Neurowissenschaftlerin Martha Farah zeigte sogar, wie Armut die Gehirnentwicklung bei Kindern beeinträchtigt. Heute können wir diese Schädigungen am Gehirn verfolgen mit bildgebenden Verfahren. Das ist keine linke antikapitalistische Propaganda, wir reden von knallharten Fakten. Warum reden wir also über Werte und nicht über Geld?
Kommen wir zur Bildung
Die Wahrscheinlichkeit, dass Studenten aus ärmeren Familien ihren Uniabschluss machen, beträgt in Deutschland 12 Prozent. Kinder aus einer einkommensstarken Familie haben dagegen eine 75-prozentige Chance, einen Abschluss zu machen (mit steigender Tendenz). Die hohe kognitive Kapazität, die ein Hochschulstudium verlangt, können Gehirne oft nicht erbringen, die sich mit Fragen auseinandersetzen wie: Kann ich meine Miete, Versicherung, Studiengebühren, Strom zahlen?
Vor allem jene Gehirnpartien, die für die Konzentration und das Gedächtnis verantwortlich sind (präfrontaler Kortex und Hippocampus) zeigen höhere Beeinträchtigungen, je niedriger das Einkommen ist. Das Leben der meisten Arbeiterklassestudenten ist gespalten zwischen einer Hetzjagd nach Geld und gleichzeitigem Sammeln von Credit Points. Warum reden wir also über den Islam und nicht über Geld?
Kommen wir zur Kriminalität.
Der am besten nachgewiesene Umweltfaktor für Gewalt und Kriminalität ist die Einkommensungleichheit. Je mehr Armut herrscht, umso höher ist die Rate von Gewaltakten, Mobbing, Drogenmissbrauch, Misstrauen, Analphabetentum und Schwangerschaften bei Minderjährigen. Der Forensiker James Gilligan hat in einer Reihe von Büchern beleuchtet, wie Armut gewaltige Formen der Kriminalität entstehen lässt.
Gilligan schreibt, er halte immer noch Ausschau „nach einer schweren Gewalttat, die nicht durch ein Gefühl der Scham oder Demütigung ausgelöst wurde“. Das ist nicht verwunderlich. In armen Milieus wird der Kampf um Status und Rang mit harten Bandagen geführt. Da viele Arme weder über die Bildung noch den Wohlstand, die Fürsorge und die Chancen der Bessergestellten verfügen, ist die Verteidigung gegen jeden noch so geringen Angriff auf ihr Ansehen für sie von immenser Bedeutung. Dafür greifen sie oft auf Gewalt zurück. Kleinste Anzeichen von mangelndem Respekt können zu schlimmsten Gewaltausbrüchen führen.
Das ist auch einer der Gründe, warum die Rückfallquote in Gefängnissen geringer wird, wenn man Gefangenen Weiterbildungen anbietet. Ein Abschluss ist ein Statusmerkmal. Er wirkt gegen das Gefühl von Scham und Demütigung.
Warum reden wir nicht darüber?
In der Welt der Preisschilder ist Geld überlebensnotwendig.
Lenkt man unsere Aufmerksamkeit aber auf Religion oder Kultur, wird das eigentliche Problem ausgeblendet. So ist bezeichnend, dass gerade ein SPD-Politiker, der sich doch für die Ärmeren einsetzen sollte, als Galionsfigur der Hetze gegen Minderheiten antritt.
Das offensichtlichste Merkmal vieler hier lebender Minderheiten ist, dass sie entweder als Gastarbeiter oder als Flüchtlinge hergekommen sind. Sie einen nicht Religion, Kultur oder Werte, sondern sie eint ihre Armut. Nicht alle, aber die meisten.
Aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung geht hervor, dass in Deutschland jeder zehnte an der Armutsgrenze lebt (das sind 20 Millionen Menschen!). Sogar viele, die arbeiten, verdienen zu wenig, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.
Die Integrationsdebatte tat und tut immer noch etwas sehr Folgenreiches. Sie spaltet die Arbeiter und Gastarbeiter. Indem sie auf kleine Unterschiede pocht (Religion, Sprache, Werte etc.), vernebelt sie die großen Gemeinsamkeiten. Es überrascht deshalb kaum, dass viele ärmere Menschen Parteien wählen, die gegen Minderheiten vorgehen. Statt sich zu verbünden, kämpfen die Armen gegeneinander.
Dritter Schritt
In Kanada leben 250 verschiedene Ethnien. Es ist das multikulturellste Land der Welt. Die schulischen Leistungen der Minderheiten und Einwanderer sind besser als die der Einheimischen, und diese Gruppen verdienen im Schnitt mehr. Wenn Kultur und Werte das Problem wären, dürften die Minderheiten nicht so erfolgreich sein. Der Punkt ist aber, dass Kanada vor allem Einwanderer mit Geld und verwertbarer Kompetenz ins Land lässt. Das machen wir in Deutschland nicht. Dafür werbe ich auch nicht.
Trotzdem zeigt uns Kanada, warum wir im 21. Jahrhundert auf die falsche Debatte setzen, wenn wir über kulturelle Unterschiede reden und uns nie einig werden, wann man denn eigentlich integriert sei. Oder wann man eine Deutsche oder ein Deutscher sei.
Der dritte Schritt muss die Überwindung der Integrationsfrage sein. Über die Jahre hinweg hat diese Frage unsere Wahrnehmung verzerrt. Indem lautstark über die Bedeutung der deutschen Sprache, Bildungsversagen bei Minderheiten, religiöser Fanatismus und Kriminalität gesprochen wurde, haben wir ständig nach den falschen Lösungsansätzen gesucht.
Die Diskussion hinter uns lassen
Bildungserfolg kann durchaus vor Demütigung durch Armut schützen, aber wie oben gezeigt, hängen Armut und Bildungsversagen zusammen. Arme Menschen scheitern häufiger an der Uni, weil sie arm sind.
Mit diesem Ansatz kann man bei Integration nicht mehr von einem Problem der Minderheiten sprechen. Desintegriert sind auch arme Deutsche, die noch nie nach ihrer Herkunft gefragt wurden. Selbst wenn Jürgen keine rassistische Diskriminierung erfahren hat, erfährt er in der Armut genügend andere Formen der Diskriminierung.
Wir können weiterhin auf die feinen Unterschiede pochen, oder wir können auf die Gemeinsamkeiten aufmerksam machen und diese Diskussion endlich hinter uns lassen.
2 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Hallo Massoud, ich nahm gestern an deiner Lesung zum Thema “Heimat” teil und war die Tn, die bei deinem Vortrag das Rapper-Gen aus dir herauspoltern hörte 👍. Bin sehr daran interessiert, den Dialog zwischen mother and son noch einmal in meinem Gehörgang zergehen zu lassen. Sobald du den veröffentlichst, lass es mich bitte wissen. Die Mutter scheint eine ebenso starke Persönlichkeit zu hängen wie ihr Sohn dabei bist, eine zu entwickeln – der Dialog: einfach genial!!! Freue mich, von dir zu hören, bzw. zu lesen.
Viele Grüße
Iyman
Lieben Dank Iyman, hat mich sehr gefreut 🙂