Macht ist ein Geschenk der Gemeinschaft.
Wenn ich frage, wer sie besitzt, antwortest du: Könige, Präsidenten, Milliardärinnen, Google, Amazon oder einfach die da oben.
Nur du nicht.
Was aber, wenn deine Ohnmachtsfantasie im Kern trügerisch ist und nicht die da oben, sondern wir alle Macht besitzen?
Ein Gruppengeschenk
Indem wir anderen Geld, Aufmerksamkeit und Raum zur Verfügung stellen, indem wir positive Geschichten über bestimmte Menschen erzählen, gewähren wir ihnen eine Zeit lang Macht. Das tun wir, weil wir glauben, dass sie die Welt verbessern. Natürlich können wir uns täuschen. Haben wir oft getan. Das Gruppengeschenk ist kein Garant für das Gute, sondern ein Vertrauensvorschuss.
Nennt es naiv, so ticken wir halt.
In seinem Buch Das Machtparadox liefert Dacher Keltner erstaunliche Belege für diese These. In zwanzig Jahren Forschungsarbeit zum Thema Macht haben alle seine einfallsreichen Experimente, die weltweit durchgeführt wurden, gezeigt, dass wir am meisten jenen Macht schenken, die am empathischsten sind.
Menschen, die auf die Gruppen eingehen, Dankbarkeit zeigen und eine gemeinsame Geschichte erzählen.
Keltners schönes Macht-Bild widerspricht aber dem landläufigen Narrativ des egoistischen, ruchlosen Alphatypen, der die Macht ergreift und seinen Willen durchsetzt. Genügend Märchen und Romane warnen uns seit Jahrhunderten vor dem Machtungeheuer. Längst ist dieses Monster Teil vieler Kulturerzählungen und taucht noch heute in Form von Diktatoren und unsympathischen Chefs auf. Empathisch sind die kaum.
Das Machtparadox
Während ich als Student bei Messen, in Cafés oder bei Media Markt gearbeitet habe, bin ich ständig über dasselbe Phänomen gestolpert.
Ein Kollege bekam eine leitende Funktion und sein Verhalten veränderte sich komplett. Wie von Zauberhand. Meist wurde er dann unsympathischer und strenger zu uns (Arbeiten, nicht reden!). Als wäre er nie einer von uns gewesen. Dabei winkte ihm nicht mal eine aussichtsreiche Zukunft. Für ein paar Euros mehr führte er sich wie das letzte Arschloch auf.
Erst Jahre später, als ich bei Keltner über die psychologische Wirkung von Macht las, verstand ich, warum. Allein die Vorstellung, Macht zu besitzen, verändert unsere Wahrnehmung grundlegend. Ab dem Augenblick, in dem wir das Geschenk der Macht erhalten, benehmen wir uns rücksichtsloser, egoistischer und zeigen weniger Empathie für andere.
Keltner nennt es das Machtparadox: Die Gruppe beschenkt uns für unsere Nettigkeit mit Macht, und wir verlieren unsere Nettigkeit durch die Macht.
Macht als Wahrnehmungsfalle
Um dieses Paradox zu verstehen, brauchen wir eine Definition von Macht:
Die Fähigkeit, Dinge in der Welt beeinflussen und verändern zu können.
Im engeren Kontext hat die alleinerziehende Mutter gegenüber ihrem hilflosen Sohn Macht, der Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitnehmer, die Partnerin gegenüber dem depressiven Partner. Es kann körperliche, geistige oder materielle Macht sein. Solange man etwas im Leben des anderen verändern kann, reden wir von Macht.
In größeren Maßstäben können wir unsere Visionen nur durchsetzen, wenn uns die Gruppe Macht gewährt. Habe ich das Machtgeschenk aber erhalten, brauchen ich die Gruppe nicht mehr. Und an dieser Stelle setzt die Macht-Tragödie ein, vor der so viele Kulturen warnen.
Die Wahrnehmungsverschiebung (Ich kann machen, was ich will, und brauche die Erlaubnis der anderen nicht mehr) mindert unsere Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen. Auf der biologischen Ebene können Forscher heute diese Wahrnehmungsfalle sogar nachweisen.
Der Vagusnerv verläuft von unserem Gehirn bis zu unserem Magen und wird aktiviert, wenn wir mit anderen mitfühlen, etwas teilen und kooperativ sind. Menschen in Machtpositionen zeigen weniger Aktivierung des Vagusnervs. Zudem bleiben jene Gehirnpartien für Mitgefühl selbst bei Fotos von krebskranken Kindern stumm. Macht korrumpiert also nicht nur psychologisch, sondern biologisch.
Interessanterweise erwähnen erfolgreiche Menschen in Machtpositionen selten die Hilfe ihrer Mitmenschen. Stattdessen erzählen sie „Geschichten, die davon handeln, wie außergewöhnlich sie sind. Das geht so weit, dass sie erklären, sie seien sogar biologisch denen überlegen, die es nicht nach oben schaffen“, schreibt Dacher Keltner.
Vor dieser Wahrnehmungsfalle steht die alleinerziehende Mutter mit ihrem Kind genauso wie Mark Zuckerberg mit seinen Angestellten. Beide besitzen in ihrem Kontext Macht.
Macht zirkuliert
Denkt an die Me-too-Debatte, daran, wie sich die öffentliche Wahrnehmung von sexuellem Missbrauch radikal verändert hat und das noch immer tut. Denkt daran, wie Opfer allein durch ihre Geschichte die mächtigsten Männer aus Hollywood, Politik und öffentlichem Leben zu Fall brachten. Indem Frauen über ihre Erfahrungen sprachen, diese auf sozialen Medien teilten, schlug die Achtung für Mächtige in Ächtung um.
Die Macht zirkulierte weiter und die Gruppe verlangte ihr Geschenk zurück. Das hätte sie nicht machen können, wenn nur die da oben Macht besäßen. Wie hätten Machtlose sie dann stürzen können?
Als man Desmond Tutu fragte, wie die Apartheid in Südafrika beseitigt wurde, antwortete er: „Es war das Ergebnis kleiner Handlungen von Millionen Menschen.“
Das war vor Twitter. Vor Instagram.
Wir alle besitzen Macht.
Machtlosigkeit
Dennoch fühlen sich viele Menschen im Alltag machtlos. Sie haben nicht das Gefühl, dass sie etwas verändern können. Und am stärksten durchdringt dieses Gefühl der Machtlosigkeit Menschen aus der einkommensschwachen Schicht.
Nie werde ich müde, die Arbeiten der großartigen Neurowissenschaftlerin Nancy Adler hervorzuheben. Ihre jahrzehntelange Forschung zu den Folgen von Armut, vor allem von Kinderarmut, zeichnet heute ein eindeutiges Bild davon, wo dieses Gefühl herrührt.
Menschen haben im Verlauf der Evolution eine hohe Sensibilität für Bedrohungen entwickelt. Verspüren wir Gefahr, schießt unser Gehirn Stresshormone wie Cortisol in die Blutlaufbahn. Unsere Körper gehen auf Abwehrstellung. Der Puls beschleunigt sich, der Blutdruck steigt, die Hände schwitzen.
Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass Arme in einem permanenten Zustand der Bedrohung leben. Der Druck, die Miete, die Lebensmittel, den Strom, die Versicherung, das Studium nicht bezahlen zu können, führt zu ständiger Alarmbereitschaft.
Der Zusammenhang zwischen einem hohen Cortisolspiegel und dem Gefühl der Machtlosigkeit ist gut erforscht. Ein Team aus Neurowissenschaftlern um Nancy Adler untersuchte die Gehirnscans von 1000 Kindern. Als Babys war bei Reichen und Armen noch kein Unterschied zu erkennen, doch mit elf Jahren waren die Gehirne der ärmeren Kinder bereits 5 Prozent kleiner und ihr Cortisolspiegel verdammt hoch.
Stress führt zur Unfähigkeit, etwas in der Welt zu verändern.
So entsteht das Gefühl der Machtlosigkeit. Obwohl jeder Macht hat, empfindet sie nicht jeder. Dieses Gefühl kann durch Geschichten verstärkt oder gemildert werden.
Opfernarrative und Machtlosigkeit
So zeigen Studien, dass der Cortisolspiegel bei Studentinnen, die Essays über die Allgegenwart von Sexismus lesen, stark ansteigt und das Gefühl der Machtlosigkeit zunimmt. Junge Frauen haben plötzlich das Gefühl, in einer Welt voller Bedrohungen zu leben.
Dasselbe gilt auch für Rassismus. In den letzten Jahren hat die Rassismus-Debatte stark an Fahrt aufgenommen. Gesellschaftlich diskutieren wir viel mehr darüber als vor zehn Jahren. Die Bundesregierung hat 2021 sogar eine Milliarde Euro für die Bekämpfung von Rassismus bereitgestellt (hier) und damit das Thema endlich zu einer bundesweiten Aufgabe gemacht. Immer mehr Rassismus-Expertinnen veröffentlichen Bücher, schreiben Artikel, bekommen Auftritte zu besten Sendezeiten.
Die Gesellschaft schenkt ihnen Macht. Das freut mich.
Dennoch bedienen sich viele Opfernarrativen, die davon handeln, wie Machtstrukturen ihre Gruppe gänzlich diskriminieren. Obwohl dieselben Machtstrukturen sie gleichzeitig mit beispielloser Macht ausgestattet haben.
Dabei hätten sie jetzt die Möglichkeit, eine Geschichte zu erzählen, die davon handelt, wie wir mehr Empathie füreinander entwickeln, wie wir als Gruppe mächtig sind und keine Angst zu haben brauchen.
Natürlich ist Rassismus und Sexismus ein reales Problem, das angesprochen und bekämpft werden muss. Unterschätzt man jedoch die psychologische Seite von Opfernarrativen, führt das dazu, dass sich Machtlose noch machtloser fühlen.
Das Bewusstsein von Macht
Sich der eigenen Macht bewusst zu werden, ist ein wichtiger Schritt. In jeder Situation unseres Lebens verändert sich das Machtgefälle. In diesen Augenblicken entscheidet sich, ob wir Menschen helfen, die unsere Hilfe brauchen, diejenigen trösten, die unseren Trost brauchen, denen beistehen, die unseren Beistand brauchen.
Wir sind nicht machtlos.
Indem wir uns daran erinnern, lernen wir, mit unserer Macht besser umzugehen. Vielleicht lernen wir auch, bescheiden zu sein, weil wir in einer anderen Situation auf die Bescheidenheit und Empathie anderer angewiesen sind. Indem wir uns daran erinnern, können wir Einfluss auf die Kontexte von Menschen nehmen, die tatsächlich machtloser sind als wir. Vielleicht hören wir dann auf, nur Geschichten von systematischer Diskriminierung zu erzählen, durch die wir uns machtloser fühlen, und erzählen stattdessen Geschichten, die uns Mut machen, Wege öffnen, an unsere eigene Kraft erinnern. Indem wir ein Bewusstsein für unsere Macht bekommen, können wir andere daran teilhaben lassen und sie vergrößern. Denn anders als Geld vervielfältigt sich unsere Macht, wenn wir sie weiterreichen.
Macht ist ein Geschenk der Gemeinschaft.