Vor den Bücherregalen der Schulbibliothek verlangsamten sich meine Schritte. Ich war zwölf und hatte noch nie ein Buch zu Ende gelesen. Meine Freunde warteten draußen auf dem Schulhof, bereit für ein Fußballspiel. Zögerlich strichen meine Fingerkuppen über Buchrücken und zogen einen dickeren Band heraus.
Jemand hat mir mal erzählt, dass kluge Menschen lesen.
Mit meinem Daumen blätterte ich die Seiten schwungvoll durch, sie hauchten mir den Geruch von altem Papier entgegen. Selbst wenn das stimmte, wunderte ich mich, wie man freiwillig so viele Seiten lesen wollte, anstatt Fußball zu spielen. Von wegen klug. Ich schob den Band ins Regal zurück und flüchtete vor den Büchern, als würde ich vor einem Ungeheuer fliehen.
Falls Büchern ein Zauber innewohnt, verfehlten sie ihre Wirkung.
Zwei Jahre später stand ich erneut vor einem Bücherregal. In der Schule ging es gerade abwärts. Nach dreimonatigem Schwänzen und der zweiten Klassenkonferenz, in der alle Lehrkräfte einhellig für meinen Rauswurf stimmten, landete ich auf der Hauptschule. Dreizehn Jahre später erfand ich die Figur Amir für meinen Roman Brenn Schule, brenn!, der sich auf die Hauptschule freute, weil er wieder mit seinen Freunden vereint war. Das traf nicht auf mich zu.
Ich schämte mich.
Warum stehst du vor diesen Büchern, fragte ich mich. Hast du die Grundschule vergessen? Wie du dich beim Vorlesen blamiert hast, wie du gestottert hast und über jede Zeile gestolpert bist. Alles vergessen?
Jemand hat mir mal erzählt, dass kluge Menschen lesen.
Ob das wohl stimmte?
Und du ziehst ein Buch aus dem Regal. Es ist Hermann Hesses Siddharta. Es ist ein Ungeheuer. Und du schlägst die erste Seite auf.
Mühsames Anschrauben
Als Legastheniker bezeichnet man Menschen mit einer verzögerten Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeiten. Also Menschen wie mich. Ich las langsam, rang Absatz für Absatz mit jedem Wort, als würde ich einen Kampf nach dem anderen austragen, verlor ständig den Faden, bis mir vor Anstrengung die Augen brannten. Ich hasste lesen.
Wenn wir ein Bild betrachten, einer Musik lauschen oder einen Film verfolgen, brauchen wir nicht mehr als Augen und Ohren. Sehen und Hören sind genetisch angelegte Fähigkeiten. Ein Lese-Gen existiert aber nicht. Biologisch sind unsere Gehirne nicht für das Lesen programmiert. Jeder Mensch muss zu jeder Zeit das Lesen neu lernen.
Vor etwa 5400 Jahren erfanden die Babylonier die Schrift. Das Alphabet ist gerade mal 3800 Jahre alt. In evolutionären Zeiträumen gerechnet, ist das so, als hätten die Menschen vor einer Minute das Lesen erfunden. Der Kognitionswissenschaftler Steven Pinker schreibt: „Die Schriftsprache ist ein optionales Zubehör, das mühsam angeschraubt werden muss.“
Wenn wir lesen, beginnen Hirnareale, die fürs Sprechen, die Zwischenraum- und Objekterkennung zuständig sind und unabhängig voneinander arbeiten, Netzwerke zu bilden. Das ist das mühsame Anschrauben. Bei jedem Menschen läuft es unterschiedlich schnell ab, und selten einwandfrei. Mit Intelligenz hat es nichts zu tun. Legastheniker bekommen oft zu hören, sie seien dumm, was nicht nur beleidigend, sondern faktisch falsch ist. Intelligenz ist genetisch angelegt (zudem erweiterbar) und biologisch sinnvoll, das Lesen nicht. Intelligenz brauchten auch Steinzeitmenschen, selbst Hunde, das Lesen nicht.
Und der Satz macht Sinn
Anfangs packte ich nie mehr als ein oder zwei Seiten am Tag. Für einen kurzen Roman brauchte ich mitunter Monate. Zudem hatte ich Vollidiot für meine ersten Leseschritte in der Klassikerabteilung gestöbert. Wenn schon denn schon, dachte ich Genie, dann die ganz Großen. Fünf Monate kostete mich Dostojewskis Schuld und Sühne, und ich wusste mittendrin nicht mehr, worum es eigentlich ging, doch aufgeben wollte ich nicht.
Man sagt, Bücher finden ihre Leser.
Klingt etwas esoterisch, doch Sofies Welt von Jostein Gaarder fiel mir tatsächlich in die Hände. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass ich meine Leidenschaft für Philosophie diesem Buch zu verdanken habe. Heute ist es mir zu seicht und ich kann nicht lange darin lesen, aber damals erfuhr ich zum ersten Mal, was es heißt, ein Buch zu verschlingen. Ich wollte mir jede Einzelheit, jede Information, jeden Philosophen einprägen und studierte jede Seite.
Sinn entsteht durch die Verknüpfung von Informationen, die einen Zusammenhang bilden. Erst dann macht etwas Sinn.
Kinder aus der Unterschicht, die spät auf Bücher stoßen, suchen in der Literatur oft Sinn. Sie haben wenige Bezugspersonen, die ihnen helfen, ihre Probleme zu lösen, und erhoffen sich diese Hilfe von Büchern. So war es jedenfalls bei mir.
Sofies Welt ist eine Schatztruhe gefüllt mit Goldstücken aus Philosophie, Naturwissenschaft und Literatur. Durch diese Lektüre begann ich meine Welt zu verstehen.
Jemand hat mir mal erzählt, dass kluge Menschen lesen.
Endlich machte der Satz Sinn.
Und ich lächle
Der Leseforscher Stanislas Dehaene schreibt, dass sich ein lesendes Gehirn „grundlegend verändert hat“. Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie zuvor. Allmählich woben die Schaltkreise in meinem Gehirn neue Netze mit unterschiedlichen Hirnregionen und ehe ich mich versah, explodierte mein Wortschatz. Ich konnte mich länger und vertiefter konzentrieren, einfacher der Geschichte folgen, bis sich die Worte in Bilder verwandelten, mich aus meinem Zimmer in die Seiten rissen.
Ich weiß noch, wie ich eines Tages nach dem Lesen in einem Roman erwachte und schockiert die Uhr anstarrte. Drei Stunden! Als wäre ich aus einem anderen Leben zurückgekehrt.
Falls Büchern ein Zauber innewohnt, offenbart er sich in diesem Moment.
Psychologen nennen diesen Zustand „Transportation“, die einen nachhaltigen Effekt auf unser Leben hat. In einer Metaanalyse von 132 Studien zum Thema Transportation stellte sich heraus, dass sich Transportations-Reisende (also Lesende) nach so einer Erfahrung neuronal verändern (hier). Du bist nicht mehr dieselbe.
Auch in der Schule veränderten sich die Dinge. Auf einmal schrieb ich Bestnoten und der Lernstoff unterforderte mich. Ich spürte geradezu, wie sich das tägliche Lesen positiv auf alle Fächer auswirkte. Inzwischen weisen Tausende Studien daraufhin, dass gute Lesefähigkeiten die Schlüsselkompetenz für Bildungsaufstieg sind.
Ein langsamer Leser bin ich geblieben und erst mit der Zeit betrachtete ich Bücher nicht mehr als Werkzeuge, um meine Welt zu verstehen, sondern liebte sie wegen ihrer Sätze, ihrer Klänge, ihrer Geschichte. Heute denke ich manchmal an den zwölfjährigen Jungen zurück, wie er vor diesen Bücherregalen stand, weil ihm jemand erzählt hatte, dass kluge Menschen lesen. Ich sehe, wie er den Band herauszog und sich wunderte, wie jemand all diese Seiten freiwillig lesen wollte, anstatt Fußball zu spielen, aber noch nicht ahnte, dass er dieser Jemand sein würde. Und ich lächle.