Nach Özil
„Wie sehr spielt eure Herkunft eine Rolle bei eurer Kunst?“
Die Frage ging an Jilet, die zwischen den Antworten der anderen Künstler mehrmals etwas Lustiges in den Raum geworfen und alle zum Lachen gebracht hatte.
Jilets Stimme hatte etwas Einnehmendes, und als sie zu sprechen begann, wirkte sie überraschend ernst und reflektiert: „Ganz ehrlich, ich habe hier gelernt, mich als Türkin zu fühlen“, ist einer der Sätze, der mir in Erinnerung geblieben ist und viel Zustimmung fand. „Irgendwann BIST du der Kanake. Und ganz ehrlich, nach Özil bin ich definitiv keine Deutsche mehr!“ Es klang nicht witzig. Jilet meinte es ernst. Ihre Worte hatten ungewollt eine dichte Atmosphäre geschaffen, als ginge etwas Größeres in diesem Raum vor.
Durch die Özil-Debatte hatte sich eine alte Minderheitenwunde gezeigt. Seit 2015 sprechen die Medien, wenn es um Integration geht, vor allem über Flüchtlinge. Wir Veteranen hatten die Integrationsfackel, mit der wir seit Jahrzehnten durch die deutschen Debatten gelaufen waren, an die Neuankömmlinge weitergereicht. Eine Zeit lang glaubten wir, dieses Ganze „INTEGRIERT EUCH!“ betreffe uns nicht mehr. Wir konnten uns zurücklehnen.
Wir hatten ja Özil.
Was hast du nur getan?
Unser Fußballer: Der integrierte Türke, auf den die Deutschen so stolz waren, schoss plötzlich keine Tore mehr, machte Fotos mit dem türkischen Präsidenten, benahm sich nicht nach den vorgegebenen Regeln. War er überhaupt noch ein Deutscher? Und schon begann der Fackellauf von Neuem.
„Ich muss dir einfach zustimmen“, bemerkte Erkan, nachdem Jilet gesprochen hatte. Zwei von Erkans drei Kindern saßen ebenfalls im Saal. Aufmerksam verfolgten sie ihren Vater „In letzter Zeit“, fuhr Erkan fort „verspüre ich eine regelrechte Wut in mir.“
Die Publikumszustimmung brauchte einen Moment, aber sie kam.
„Bruder, wie denn auch nicht!“, antwortete Jilet: „Man kann mir erzählen, was man will, als Migrant arbeitest du dich täglich an Vorurteilen ab. Machen wir uns nichts vor. Ich meine, mag sein, Babak, dass man sich auf seine Kunst konzentrieren sollte, aber wenn man ständig in eine Ecke gedrängt wird, was dann?“
„Tun das nicht auch unsere Leute?“, fragte Babak zurück. „Ich mag einfach dieses ‚Wir sind die Opfer‘-Getue nicht.“
„Sorry, Babak, aber solange es Täter gibt, gibt es auch Opfer. Da lass ich mir auch nichts erzählen.“ Als Jilet das sagte, bekam sie stürmenden Applaus. Babak lehnte sich zurück, wirkte in sich gekehrt. Die Welt bestand aus klaren Linien.
Unter Verletzten
Während Jilet weiterredete, fühlte ich mich in der Zeit zurückversetzt, als säße ich wieder in jenem Raum über der Universitätsbibliothek, wo ich Studenten zuhörte, die nichts mehr mit Deutschen zu tun haben wollten. Damals war ich unter Akademikern gewesen, die trotz ihrer erfolgreichen Bildungskarriere nie den Anschluss fanden. Nun, spürte ich, saß ich wieder unter Verletzten.
Gib Menschen lange genug das Gefühl, dass sie nicht dazugehören, und sie verspüren Wut.
Jilet redete inzwischen seit zehn Minuten durchgehend und sie hatte viele Themen angesprochen, die irgendwie lose im Raum hingen und doch eine Verbindung hatten. Im Kern ging es immer um Ausgrenzung. Schließlich fragte eine Zuschauerin, was man dagegen tun solle.
„Bildung!“, rief Jilet aus und hob dabei ihren Zeigefinger, als hätte sie einen plötzlichen Einfall gehabt. Mit ihrem T-Shirt, auf dem ‚Wallah, ich war es nicht!‘ stand, wirkte es wie ein einstudierter Gag. „Am Ende kommt es auf die Bildung an. Um herauszufinden, wie die Zusammenhänge sind, die zum strukturellen Rassismus und zur Diskriminierung führen.“ Und wieder war ich bei den Studenten, die die Bildung benutzten, um sich abzuschotten. Nein, Bildung kann deine Wunden nicht heilen.
Langsam wurde ich unruhig auf meinem Platz. Ich stand von meinem Stuhl auf und ging weiter nach vorne, um die Diskussion besser zu verfolgen. In diesem Moment sprang auch Babak von seinem Stuhl hoch und kam auf mich zu. „Willst du nicht diese Sache mit der neuen Geschichte sagen?“
Wie? Was? Wo?
„Das kannst du doch machen“, erwiderte ich und schielte nach einem Fluchtweg. Der will mich doch nicht etwa …
„Du hast es geschrieben.“
„Aber … aber.“ Babak drehte sich zu den Moderatoren um: „Massoud hat einen Essay darüber geschrieben. Kann er auch mitmachen?“
Babak, du verdammter Bastard!
„Brudaa, komm, setz dich!“ Jilet und Waseem machten mir schon einen Platz frei. Mein Herz pochte. Ich bekam ein Mikrofon in die Hand gedrückt und setzte mich in die Runde. Wenn mich zu viele Leute gleichzeitig anschauen, beginne ich immer zu stottern.
„Bildung“, fing ich an und versuchte, langsam zu atmen, „ich bin ein Fan davon.“ Die Lacher entspannten mich. Ich war unter Leuten, die mir nichts Böses wollten. Mir fiel wieder ein, wie ich damals in der Universitätsbibliothek die Deutschen vor den Verletzten verteidigte, als bräuchte die Mehrheit meine Hilfe. Dabei suchten die Studenten nur einen Ort, wo sie keine Opfer mehr waren. Wo sie laut ihre Wut kundtun konnten.
Das alles lief schon seit einer ganzen Weile so ab, wurde mir plötzlich klar, seit Generationen. Minderheitengruppen fühlten sich diesem Land entweder zugehörig oder hassten es, sie gaben sich Mühe als gleichwertige Mitglieder dazuzugehören oder resignierten und wollten mit diesem Land nichts mehr zu tun haben. In geschützten Räumen trafen sie sich dann, leckten ihre Wunden, vertrösteten sich.
Gib Menschen lange genug das Gefühl, dass sie nicht dazugehören, und du hast sie verloren.
Mein Blick schweifte zu Erkans Söhnen. Sie durften nicht älter als elf gewesen sein. Wieder eine Generation, fragte ich mich, die das mitmachen sollte, die diese Wut in sich spüren sollte?
Die Endlosschleife des deutschen Integrationstheaters. Nicht mehr lange und diese Kinder werden ihre Rolle darin suchen. Sie werden mit Begriffen wie Integration und Leitkultur konfrontiert werden und sie werden sie nicht verstehen. Denn sie waren schon immer hier, und von einer bestimmten Kultur wollen sie sich gar nicht leiten lassen. Trotzdem werden sie sich bemühen, die Harmonie aufrechtzuerhalten. Sie werden verdammt gut Deutsch sprechen, in München artig das R rollen und der Mehrheit das Gefühl geben, unter ihresgleichen zu sein.
Nach und nach werden sie aber auch verstehen, dass Nazis, die auf demokratische Werte spucken, immer noch mehr als Deutsche gesehen werden als sie mit ihren liberalen Ansichten. Und in diesem Moment wird etwas mit diesen Kindern passieren, das seit Generation mit Kindern in diesem Land passiert.
Sie gehen verloren.
„Ich verspüre eine Wut in mir.“ Die Worte verfolgen mich.
Gib Menschen lange genug das Gefühl, dass sie nicht dazugehören, und sie werden dich hassen.
Ich wünschte
Dieses Land kränkelt seit Jahren an einer Debatte, die alles dafür tut, dass sich ein Viertel seiner Bürger nicht zugehörig fühlt. Weil man immer noch an der Illusion einer homogenen deutschen Kultur festhält, in der sich Minderheiten gefälligst zu integrieren haben. Nur gibt es diese eine Kultur nicht.
Gab es nie.
Ich wünschte, ich hätte Erkans Kindern eine andere, neue Geschichte erzählen können, an die sie glauben könnten und bei der sie nicht das Gefühl hätten, sie müssten erst etwas leisten, um dazuzugehören. Doch mir fiel keine ein.
Erkan und Hanan bedankten sich für die tolle Debatte. Es gab Applaus und Jilet wurde zu einem zwanzigminütigen Stand-up aufgefordert.
Wie soll ich sagen: Jilet war grandios. Ich hatte seit langem nicht mehr so hart gelacht. Und für einen Moment, war mir, als würden alle ihre Wunden vergessen.