Alles dreht sich um Tod und Menschlichkeit im Horrorgenre.
Adam und Evas Vertreibung aus dem Paradies ist die erste uns bekannte Horrorgeschichte. Das Monster in Form einer Schlange verführt die ersten Menschen dazu, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Die Erbsünde. Seitdem schlägt sich die Menschheit mit dem Tod herum. Moderne Horrorgeschichten ersetzen die Sünde durch Schuld, die die Hauptfigur psychologisch und als Monster verfolgt. Kein anderes Genre verbindet eine bestimmte Denkweise derart radikal mit dem Tod. Die Warnung lautet: Wenn du weiterhin so denkst, wird das Monster in dir dich umbringen.
Die Schriftstellerin Mary Shelley verband als eine der Ersten die Todesthematik mit der Frage der Menschlichkeit. Dr. Frankensteins Kreation, ein halbmenschliches Wesen mit empathischer Veranlagung, wird nach seiner Erschaffung zum Gejagten und flieht vor dem wütenden Mob. Was macht einen Menschen eigentlich zu einem Menschen? Wer gehört zu uns, fragt Shelley und führt damit die Moral ins Horrorgenre ein.
Persönliche Horrorgeschichten handeln von jenen Momenten unseres Lebens, in denen wir eine Schuld auf uns geladen haben, für die wir uns schämen.
Nicht Angst ist die treibende Kraft im Horror, es sind Schuld und Scham.
Nationale Horrorgeschichten handeln von jenen Momenten, in denen unser Land eine Schuld auf sich geladen hat, für die wir uns schämen.
Das Monster ist die Manifestation dieser Schuld. Es ist das Tabu, das Andere, das nicht Dazugehörende. Nicht zufällig sind so viele Schauergestalten Zwischenwesen: Vampire, Werwölfe, Zombies. Sie zu töten, heißt, dem Tod kurzfristig zu entkommen, aber auch, selbst zum Unmenschen zu werden.
Der Umgang mit unserer Horrorgeschichte sagt also auch etwas über unsere Menschlichkeit aus.
Die deutsche Horrorgeschichte
Wie Dr. Frankenstein trugen wir in unseren antisemitischen Geschichten einst Körperteile zusammen und erschufen das jüdische Monster. Das Dritte Reich ist eine deutsche Horrorgeschichte. Mit der Erschaffung des Monsters verwandelten wir uns selbst in eines. Konzentrationslager erinnern an diese Verwandlung.
Die meisten Länder hassen ihre Horrorgeschichten. Sie verdrängen das Monster, spielen seine Verbrechen herunter oder bestreiten seine Existenz gänzlich. Lieber ergehen sie sich in glorreichen Erzählungen über historische Errungenschaften, auf die sie stolz sein können. Immerzu um das positive Selbstbild bemüht. Franzosen identifizieren sich lieber mit der Französischen Revolution als mit ihren Kolonien, Amerikaner mehr mit der amerikanischen Revolution als mit der Sklaverei.
Ohne Verdrängung kein Patriotismus.
Psychologische Befragungen zur Selbsteinschätzung bestätigen die hartnäckige Weigerung, uns in einem negativen Licht zu betrachten. Die aller meisten Menschen empfinden sich moralisch als schwer in Ordnung. Ob Bankangestellter oder Mörder. Niemand will das Monster sein.
Umso merkwürdiger ist das deutsche Experiment mit seiner Horrorgeschichte. Kein anderes Land erinnert sich so konsequent an seine Schuld wie Deutschland. Kein anderes Land identifiziert sich so hartnäckig mit seinem Monster wie dieses.
Der Soziologe Michal Bodemann beobachtet in seinem Buch Das Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung ab den 1970er-Jahren eine Art Neuerfindung der deutschen Identität, die er im Bild des Gedächtnistheaters zusammenfasst. In diesem Theaterstück spielen Deutsche die Rolle des geläuterten Volkes, das durch die Erinnerung an die begangene Schuld um Vergebung bittet. Juden übernehmen dagegen die Vergeber-Rolle, indem sie an Gedenkfeiertagen und Veranstaltungen zum Holocaust mit ihren reumütigen Tätern zusammenkommen, um an die Schuld zu erinnern. Öffentliche Konfrontation als Heilung. Erinnerungskultur als neue deutsche Identität. Wie der Held einer Geschichte, der sich durch die Einsicht seiner Fehler in eine bessere Version seiner selbst verwandelt, so verwandelt sich Deutschland in eine bessere Version seiner selbst.
Am Ende der Geschichte verbünden sich Deutsche mit Juden. Beim großen Happy End wird das Monster zum Menschen. Aufarbeitung als Neuerfindung. Wie gut hat das Experiment funktioniert?
Das Monsterproblem
Eine Weile ziemlich gut, nur zahlten wir einen Preis dafür. Das Beharren auf einem positiven Selbstbild liegt tief in der DNA jeder nationalen Erzählung verborgen. Nationen sind erfundenen Geschichten, die Menschen zusammenbringen und das Gefühl einer gemeinsamen Identität geben. Der Kitt ist das Positive. Dafür eignen sich Horrorgeschichten denkbar schlecht. Bodemann formulierte das Gedächtnistheater noch als eine Kritik. Er fand, Juden würden für das deutsche Selbstbild als geläutertes Volk auf der Bühne ausgenutzt werden. Der Aktivist Max Czollek folgt Bodemanns Kritik und schlägt in seinem Buch Desintegriert Euch vor, dass sich Juden nicht mehr für das Gedächtnistheater zur Verfügung stellen sollen. Beide sehen die Erinnerungskultur als Selbstprofilierung. Auch wenn ich die Kritik verstehe, teile ich sie nicht. Schonungslos die eigenen historischen Verbrechen aufzuarbeiten, ist keine Selbstverständlichkeit. International sogar die Ausnahme. Ich wünschte, mehr Länder würden ihre Geschichte als eine Geschichte von Verlierern erzählen, von Verbrechern. Nicht aus Masochismus, sondern aus Ehrlichkeit. Aus Demut.
Das Problem scheint mir nicht zu sein, dass sich die Deutsche mit ihrer Täterrolle besonders wohlfühlen, sondern im Gegenteil:
Sie belastet die Deutschen.
Wenn Amerikaner in den nationalen Spiegel schauen, bewundern sie ihre Schönheit, wenn Deutsche das tun, entdecken sie eine Fratze. Nennen wir es das Monsterproblem. Egal, wie sehr sich ein Land mit seinem Monster auseinandersetzt, um es aufzuarbeiten, es bleibt ein Monster. Und damit eine Gefahr für die positive Erzählung.
Die Zwischenwesen
Hinzu kommt ein weiteres Problem. 2024 hat fast 25 Prozent der deutschen Bevölkerung eine Migrationsgeschichte, die keine direkte Verbindung zur deutschen Horrorgeschichte aufweist. Sie sind gar nicht mitgemeint.
Springe ich in meine Schulzeit zurück, sehe ich genervte Gesichter, wenn wir Das Dritte Reich wieder mal durchnehmen. Ob im Deutsch-, Geschichts- oder Politikunterricht überall tauchte das Thema auf. Auf Hitler hatte niemand Bock. Meine deutschen Mitschüler wollten sich nicht als Nachfahren von Nazis betrachten, in eine Sache verwickelt sein, mit der sie nichts zu tun hatten. Meinen migrantischen Schülern dagegen sagte das Dritte Reich so viel wie die Französische Revolution. Nichts. Die Klasse schaltete ab und niemand schämte sich. Dabei hat Scham eine wichtige Funktion in der Erinnerungskultur. Der Theorie nach soll sie dazu führen, dass sich das große Verbrechen nicht wiederholt.
Ich empfand aber keine Scham. Natürlich ist das Dritte Reich eine moralische Katastrophe. Ich verurteilte die Verbrechen, schlug mich auf die jüdische Seite. Das hat aber weniger mit Scham zu tun als mit Gerechtigkeitssinn. Eher schämte ich mich für die iranische Regierung, die Erhängung als legitime Strafe praktiziert. Wenn ich aber ehrlich bin, nicht mal dafür. National stand ich zwischen den Stühlen.
Wie viele Personen aus migrantischen Communitys betrachten die Verbrechen der deutschen Geschichte als Teil ihrer Geschichte? Wie viele schämen sich für das Monster? Fühlen sich mitverantwortlich?
Die Wahrheit ist, kaum jemand. Und nicht, weil sie es sich zu leicht machen, sondern weil sie im Schauspiel der neuen deutschen Identität nie einen Platz hatten. Um in Bodemanns Bild zu bleiben. Sie stehen nicht mit Deutschen und Juden auf der Bühne, um ihre Vereinigung zu feiern, sondern sitzen im Publikum in den hinteren Reihen. Sind passive Beobachter. Ihre Rolle ist es, zu schweigen, dem Stück still beizuwohnen. Und wenn es zu Ende ist, sollen sie der deutsch-jüdischen Identität applaudieren, sich leise aus dem Saal begeben und morgen wiederkommen.
Nur hat dieses Publikum keine Lust mehr darauf.
Die Vertreibung des Monsters
Betrachten wir die Erinnerungskultur als ein Identitätsexperiment mit der nationalen Horrorgeschichte, verstehen wir aktuelle gegenläufige Entwicklungen auch besser. Zwei Strömungen unserer Zeit sind dabei besonders interessant. Teile der migrantischen Kinder meiner Schulzeit, die sich so oft fremd im eigenen Land gefühlt haben, prangern immer lautstärker Themen wie Rassismus und Diskriminierung an. Sie kämpfen für einen Platz auf der Bühne und greifen damit Mary Shelleys Frage auf: Wer gehört zu uns? Sicher ist es kein Zufall, dass in den letzten Jahren Unmengen an Büchern zum Thema Rassismus und Diskriminierung veröffentlicht wurden. Stell dir Frankenstein als Aktivisten vor. Migranten als Zwischenwesen.
Auf der anderen Seite wählen Teile der deutschen Kinder meiner Schulzeit, die sich nie mit der Täterrolle der Erinnerungskultur identifizieren konnten, immer häufiger rechte Parteien. Sie wollen das Monster vertreiben. So verspricht das AFD-Grundsatzprogramm: „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.“ Da haben wir ihn: den Schwenk ins Positive. Die Rückkehr ins alte Muster der nationalen Erzählung. Das Ende der Erinnerungskultur. Von den migrantischen Communitys ist da kein großer Widerstand zu erwarten. Sowohl in der Erinnerungskultur als auch bei den Rechten waren die Zwischenwesen – selbst wenn es niemand laut aussprach – stets das Monster.
Ob das Experiment mit der Horrorgeschichte gescheitert ist, bleibt offen. Zweifellos steht es vor einer Bewährungsprobe. Der Wunsch nach einer Veränderung ist überall mit Händen zu greifen. Wohin die Veränderung geht, weiß niemand. Doch egal, wie wir mit unserer nationalen Horrorgeschichte in der Zukunft umgehen, wir werden Shelleys Fragen beantworten müssen: Wer gehört zu uns? Und wie gehen wir mit dem anderen um?