Die Religion des Humanismus
Diese kurze Beschreibung deines Wesens ist in westlichen Gesellschaften eigentlich ein Gemeinplatz. Ich erzähle dir wahrlich nichts Neues. Schaut man in der Geschichte aber ein wenig zurück, fällt einem sofort auf, dass das gar nicht so selbstverständlich ist. Dieses Gebilde von einem frei von jedem Einfluss herrschenden Willen ist eigentlich relativ neu.
Ein Bauer im Mittelalter zum Beispiel glaubte nicht, dass seine Ernte, sein Schicksal, oder sein Leben maßgeblich von seinem Willen abhingen. Vielmehr war Gott bzw. waren die Götter für die Ernte, das Glück, die Liebe oder sein Schicksal verantwortlich. Kein Bauer hätte sich um das Jahr 1400 ernsthaft angemaßt, zu meinen, dass sein Ich all diese Dinge richten wird. Das wäre einer Gotteslästerung gleichgekommen. Ein Priester hätte darin eine größenwahnsinnige Fantasievorstellung des bösen Sünders gesehen,der vergessen habe, wo sein Platz im göttlichen Kosmos ist.
Nun, das änderte sich mit dem Humanismus.
Humanismus ist die Religion, die behauptet, der Mensch sei ein einzigartiges Wesen, von dessen Macht und Wissen das Leben des Planeten und seiner eigenen Gattung abhänge. Sie ist eine Religion ohne Gott, weil darin der Mensch selbst zum Gott erkoren wird. Religionen brauchen nicht notgedrungen Götter. Denn was Religionen eigentlich ausmacht, sind ihre allumfassenden Geschichten über menschliche Gesetze, Normen und Werte. Später erhalten diese Dinge eine übermenschliche Legitimation. Religionen werden von Menschen erschaffen und definieren sich mehr über ihre soziale Funktion als über die Existenz eines Gottes.
Einer von uns
Während die großen monotheistischen Religionen von einem Gott reden, der innerhalb von sechs Tagen Beeindruckendes geleistet haben soll, streichen die Anhänger des Humanismus Gott aus ihrer Rechnung. Sie stellen sich selbst an seine Stelle. Nicht Gott gibt dem Leben einen Sinn, sondern der Mensch. Um das Leben folglich zu verstehen, muss ich mich nicht an die heiligen Texte halten, sondern an die Wissenschaft, die für mich das Leben entschlüsselt. Wir geben den Glauben auf und erhalten im Gegenzug Macht und Wissen.
Nicht unbedingt ein schlechter Tausch. Natürlich ist Gott noch irgendwie da, wahrscheinlich glaubst du sogar an ihn, was vollkommen Okay für den Humanismus ist, denn er weiß, sosehr du auch an Gott glauben mögest, in deinem täglichen Leben hast du dich längst den Prinzipien des Humanismus verschrieben.
Seien wir ehrlich, du glaubst doch mehr an dich selbst.
Wenn du krank wirst, betest du nicht wie der Bauer im Mittelalter zu Gott, sondern vertraust auf die medizinische Wissenschaft oder Google. Du glaubst an den Menschen und seine technologischen Errungenschaften der letzten zweihundert Jahre und bist recht optimistisch, dass wir die meisten Krankheiten früher oder später durch die Wissenschaft in den Griff bekommen werden. Und du hast sogar recht. Der humanistische Glaube an den Menschen hat tatsächlich extrem viele Katastrophen, Hungersnöte und Krankheiten beseitigt. Seine Karriere ist eine einzige Erfolgsgeschichte.
Falls du jetzt aber doch meinst, dass du dieser Religion nie beigetreten seist, und gar nicht verstehst, wie ich das so einfach behaupten kann, dann bitte ich dich kurz zu überprüfen, welchen dieser humanistischen Slogans du nicht zustimmen würdest.
Humanistische Slogans
Fangen wir mit der Politik an: Der Wähler weiß, was am besten ist.
Gehen wir in die Ökonomie: Der Kunde hat immer recht.
Dann kurz zur Kunst: Schönheit liegt im Auge des Betrachters.
Und springen wir zuletzt zur Moral: Wenn es sich gut anfühlt, dann tu es!
Nun, welchem dieser Sätze würdest du nicht zustimmen und an wie viele davon glaubst du?
Gemerkt? Ja, du bist einer von uns.
Der Humanismus hat der Gefühlswelt des Menschen eine besondere Bedeutung gegeben. Selbst an Gott glauben viele heute, weil es sich so anfühlt, als ob es ihn gibt. Mein inneres Ich sagt mir, es muss einen Gott geben. Gottes Existenz ist von den Launen seiner Geschöpfe abhängig.
Armer Gott.
Der moderne Mensch rechtfertigt selbst göttliche Gebote mit seinen Gefühlen. „Du sollst nicht töten“, ist nicht deshalb richtig, weil es Gott mal gesagt hat, sondern vielmehr, weil man damit dem Opfer, seinen Familienangehörigen und Bekannten schreckliches Leid zufügt. Unsere Argumente berufen sich also auf die Gefühle der Menschen. Sie sind entscheidender als göttliche Dogmen.