Und zurück bleibt die Wut.
Mit zwanzig schließt du dich der iranischen Linken an, verschlingst all diese komplizierten Texte von Marx, Lenin, Mao und kapierst nichts, fühlst dich aber klug, wenn du in Diskussionen von Proletariat, von Klassenkampf, von Revolution schwafelst. Die Wut in deiner Brust, endlich hast du Worte für sie entdeckt. Mit ihnen brennst du die Welt nieder. Danach wird alles besser. Das weißt du ganz genau. Bei einer Demo lernst du deine zukünftige Frau kennen und dir ist, als schlage sich selbst das Universum auf deiner Seite. Ihr seid jung, verliebt und wunderschön.
Mit vierunddreißig dämmert dir, dass die Revolution nicht so gelaufen ist, wie du sie dir vorgestellt hast. Die Wut in deiner Brust, sie wütet jetzt lauter. Deine Söhne, fünf und sieben, zittern am Esstisch, wenn du auf die verfluchten Mullahs schimpfst. Diese Mistkerle haben dir einfach so die Revolution gestohlen. Am liebsten würdest du sie alle abknallen! Eines Nachts dann klopfen ihre Soldaten an deiner Tür, um dich wie all deine anderen Freunde abzuholen. Und du verstaust deine Wut in einem Koffer, flüchtest mit der Familie aus jenem Land, das du doch gerettet hast.
Mit zweiundvierzig siehst du deine Söhne kaum noch. Sie weigern sich, dir als Publikum für deine Tiraden zu dienen. Iran langweilt sie. Du langweilst sie. Deine Frau versteckt sich vor dir, erträgt deine weitschweifigen Analysen über Iran nicht. Zu viel hat ihr deine Wut gekostet. Dir passt das aber nicht. Was fällt diesem Miststück ein, dich zu ignorieren! Und du prügelst sie mit dem Gürtel so fest, wie einst dein Vater dich und deine Mutter verprügelt hat, wenn ihr ein schlechtes Publikum abgabt. Als deine Frau die Scheidung einreicht, rettet sie nur noch die Polizei vor dir.
Mit dreiundfünfzig hat deine Familie seit drei Jahren keinen Kontakt zu dir. Deine Söhne gehen nicht an die Anrufe ran, melden sich nie zurück. Wie herzlos die Welt doch zu dir ist. Hast du nicht alles für deine Familie getan? Warst du nicht immer für sie da gewesen? Du beschwörst deine Fahrgäste im Taxi, wie sehr du dich für deine Söhne aufgeopfert hast. Erzählst allen dieselbe Geschichte: Erst hat dich Iran, dann dein Blut betrogen. Du hast sogar Beweise, die du leidenschaftlich aufzählst, als verhandelst du vor Gericht um dein Leben. Und wenn die Fahrgäste müde in ihren Sitzen zurücksinken, grinst du siegessicher in dich hinein. Wieder mal hast du gewonnen! Nachts schleppst du dann deinen müden Körper in die leere Wohnung zurück, presst dein Gesicht tief ins Kissen und wartest in stiller Panik auf deine Albträume.
Mit fünfundsechzig brüllst du selbst nach zwei Herzinfarkte wie der Zwanzigjährige, der damals glaubte, die Welt durchschaut zu haben. Immer häufiger peitscht dich die Wut an den Rand des Wahnsinns, aber in letzter Zeit flackern auch seltene Momente der Ehrlichkeit vor deinen Augen auf: Dann siehst du die Geburt deiner zwei Söhne, deine unendliche Liebe für sie, dein aufrichtiges Versprechen, die Jungs niemals im Stich zu lassen, aber auch deine Unfähigkeit, für sie da zu sein, sie wachsen zu sehen, als Vater zu beschützen, wie du dir früher gewünscht hast, dass dich dein Vater beschützt. Du siehst das Wunder deiner Jugend, das Glück der Verliebtheit, die Liebe deines Lebens, aber auch das Versagen, diese Liebe als eine Gabe zu betrachten, die dir nur einmal im Leben zuteilwird, für die du hättest Dankbarkeit, Demut zeigen sollen, aber wieder mal daran gescheitert bist. Du siehst dich als Vierjährigen, für deine Mutter einen Löwenzahn pflücken, dir tagelang Gedanken machen, wie du sie zum Lachen bringen kannst, damit alles wieder gut wird. Und für den Bruchteil einer Sekunde bist du tatsächlich dieser Junge von damals und du schaust auf ein Leben, wie es hätte verlaufen können, wenn du dich nur anders entschieden hättest.
Doch dann ist der Moment verflogen.
Und zurück bleibt die Wut.
Massoud Doktoran ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Essayist. Sein Debütroman “Brenn Schule! Brenn!” ist überall erhältlich. Die Literaturagentur Langenbuch&Weiss betreut zwei weitere Romane von ihm . Zurzeit lehrt er Drehbuchschreiben und kreatives Schreiben an der School of Games.