Als 1999 Roberto Benigni für seinen Film „Das Leben ist schön“ einen Oscar nach dem anderen abräumte, bedankte er sich bei seinen Eltern für das größte Geschenk, das sie ihm gemacht hatten: die Armut.
Damals hat mich dieser Satz gerührt. Wie er das auf der Bühne mit dem goldenen Oscar in der Hand sagte, kam es mir vor, als wäre die eigene Armut nichts weiter als eine schlimme Phase, die irgendwann im Scheinwerferlicht des Ruhmes endet. Wir neigen oft dazu, unser Leben als eine Art Geschichte zu betrachten, und wir erzählen diese Geschichte immer aus der Situation, in der wir uns gerade befinden. Benigni auf der Bühne: Er war arm, hatte gekämpft und nun ist er ein erfolgreicher Filmstar.
Leider ist das Leben keine Geschichte und Erfolgsstorys wie die von Benigni treffen auf eine so unbedeutende Zahl von Menschen zu, dass ich heute nicht mal mehr ein müdes Lächeln für derartige Sätze übrighabe.
Armut ist kein Geschenk. Sie ist eine der schlimmsten Sachen, die einem passieren können.
In der Armut geht‘s allen beschissen
Vorab: Armut ist relativ.
Einwände wie der folgende machen auch deshalb keinen Sinn: „In Deutschland reden wir von Armut, aber geht mal nach Simbabwe, da seht ihr echte Armut!“ (Ihr könnt jedes andere Land einfügen.) Erstens gibt es keine echte Armut, denn sie hängt davon ab, mit wem oder welchem Land man sich vergleicht. Zweitens: Um über Armut zu diskutieren, hilft es niemandem, Vergleiche zu Ländern zu ziehen, in denen die wirtschaftlichen Verhältnisse weit unter unseren liegen. So vergleicht man nur Äpfel mit Birnen.
Sorry, Simbabwe, wir werden trotzdem über Armut reden.
Um den Begriff simpel zu halten, schlage ich die einfache Definition von dem Ökonomen Joseph Hanlon vor: Armut ist ein Mangel an Geld. Sie ist nicht ein Mangel an Bildung, Charakter, Einstellung oder Glück, zuallererst ist Armut ein Mangel an Geld. Und mit Geld ist jede Art von Vermögen gemeint, das in Geld umgewandelt werden kann.
Hat man kein Geld, ist man arm. Simpel.
Und was macht ein Mangel an Geld mit deinem Leben? Dreimal darfst du raten. Wenn du arm bist, leidest du häufiger an psychischen Störungen und gesundheitlichen Schäden. Du landest öfter im Gefängnis, bist häufiger und länger arbeitslos, schaffst die Schule seltener und natürlich brichst du die Uni öfter ab. Warte doch, es geht weiter. Du konsumierst mehr Drogen, Alkohol und Tabak, kommst mit deinen Zielen langsamer voran oder erreichst sie gar nicht. Vergessen wir nicht, dass du auch stressanfälliger bist und häufiger kriminell wirst. Du kannst dich schwerer auf eine Sache konzentrieren, und langfristige Projekte zu verfolgen, kannst du gleich vergessen … Die Liste ist noch weit länger, aber der Überblick müsste reichen.
All diese Dinge passieren dir unabhängig von Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit.
In der Armut geht’s allen beschissen.
Doch warum eigentlich?
Lange Zeit herrschte die Meinung vor, dass arme Menschen einfach faul wären und deshalb falsche Entscheidungen für ihr Leben träfen. Wenn sie sich mal zusammenreißen und ihre Ziele richtig verfolgen würden, wären die Faulenzer nicht mehr arm und hörten auf zu meckern. Um es neoliberal auf die Spitze zu bringen: Wenn die Armen es wirklich wollten, wären sie nicht mehr arm.
Es gibt nur ein klitzekleines Problem mit dieser landläufigen Annahme: dass sie absoluter Bullshit ist.
Wenn alles knapp wird
Denn das Problem mit dem Willen fängt beim Kontext an. Der wirtschaftliche Kontext formt unseren Willen. Darauf hat die Forschungsgruppe um den Princetoner Professor Eldar Shafir am stärksten hingewiesen. Shafir wollte herausfinden, warum ärmere Menschen so oft falsche Entscheidungen treffen und hat wegen seiner bahnbrechenden Ergebnisse einen eigenen Forschungszweig gegründet namens „Knappheitsforschung“.
Es geht darum, was in den Köpfen der Menschen vorgeht, wenn sie das Gefühl haben, knapp bei Kasse zu sein. Denn sie verhalten sich auf einmal anders. Kurzfristige Ziele können Arme recht gut und oft sehr kreativ erreichen. Mit knappen Mitteln halten sie sich jahrelang über Wasser. Da Armut aber keine Atempause gewährt, beschränkt sich ihre Energie stets nur auf den nächsten Tag, höchsten auf den nächsten Monat.
Shafir sagt: „Knappheit zehrt uns auf. Wir verlieren unsere Fähigkeit, uns mit anderen Dingen zu befassen, die ebenfalls wichtig für uns sind.“
Weil arme Menschen viele Dinge gleichzeitig erledigen müssen, ist ihr Gehirn überlastet. Ich rede nicht über Obdachlose, die sind ärmer dran. Dieses Phänomen trifft übrigens auch auf jede andere Form von Knappheit zu. Wenn Manager volle Terminkalender haben und von einem Meeting zum anderen hetzen, kämpfen sie gegen ihre zeitliche Knappheit an.
Die kognitive Überlastung führt uns zum Kernproblem von Entscheidungen. Wenn Fragen wie: „Was kann ich am Abend essen?“, „Wie zahle ich die nächste Miete?“, „Wie soll ich diese Schulden bei der Krankenkasse abzahlen?“ plötzlich zu viel Raum einnehmen, fallen unsere Entscheidungen fast immer dumm aus. Der Autor Rutger Bregman bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Arme fällen keine dummen Entscheidungen, weil sie dumm sind, sondern weil sie in einem Kontext leben müssen, in dem jedermann dumme Entscheidungen fällen würde.“
Vielbeschäftige Menschen können sich eine Auszeit gönnen, Arme nicht. Die Miete und die Schulden zahlen sich nicht von allein und die Drohung der Zwangsvollstreckung haucht ihren Atem tagtäglich in ihren Nacken.
Selbst gebildete Menschen sind vor den Folgen der Armut nicht sicher. Auch ihr Gehirn wird plötzlich dümmer.
Was Armut mit Intelligenz macht
Shafir geht so weit, von Einbußen zwischen 13 und 14 IQ-Punkten zu sprechen, und zieht den Vergleich zu Alkoholabhängigen. In einer großangelegten Studie fragte Shafirs Team Kunden im Einkaufszentrum, was sie tun würden, wenn sie in diesem Moment eine Autoreparatur bezahlen müssten. Man erfand hypothetische Defekte, die mal 150 Dollar, mal 1500 Dollar kosteten. Würden sie sofort zahlen, einen Kredit beantragen oder Überstunden bei der Arbeit machen? Während die Kunden über diese Fragen nachdachten, unterzog man sie kognitiven Tests.
Bei 150 Dollar schnitten die Kunden mit niedrigen Einkommen genauso gut ab wie die Besserverdienenden. Angesichts von Reparaturkosten in Höhe von 1500 Dollar sah die Welt plötzlich ganz anders aus. Arme schnitten deutlich schlechter ab. Der bloße Gedanke, in finanzielle Not zu geraten, schränkte ihre kognitiven Fähigkeiten ein.
Warum?
Wenn das Gehirn mit Glukokortikoiden (Stresshormonen) überschwemmt wird, wirkt das schädlich auf unsere Konzentration, Impulskontrolle, Empathie und andere kognitive Fähigkeiten. Der Gedanke an die eigene Not erzeugt Stress.
Kurzer Schwenker zu unserem Gehirn. Der präfrontale Cortex ist der Teil unseres Gehirns, den wir mehr oder weniger bewusst als unseren Willen erleben. Er kann strategisch in die Zukunft planen, uns uns auf eine Sache konzentrieren lassen und dafür sorgen, dass man sich, wenn nötig, für den schwierigeren Weg entscheidet. Das Arbeitsgedächtnis, die Emotionsregulation, Impulskontrolle und Entscheidungsfindung hängen alle mit dem präfrontalen Cortex zusammen. Bei diesem Test schwammen die Gehirne der Armen in einer Flutwelle von Stress und das beeinträchtigt ihre frontalen Funktionen.
Gerade bei Kindern, die in armen Verhältnissen aufwachsen, hat das weitreichende Folgen. Die Arbeiten von Martha Farah und anderen Forschern sind bedrückend. Je niedriger der sozioökomische Status von Fünfjährigen ist, desto a) niedriger ist ihre Stressresistenz und desto höher ist die Ausschüttung von Stresshormonen. Desto niedriger ist b) auch der Stoffwechsel im Gehirn, und das wiederum hat zufolge, dass ihr präfrontaler Cortex schlechter ausgebildet ist.
Kinderarmut verzögert sogar die Reifung des Gehirns. Vor allem die des Corpus callosum, der die beiden Hirnhälften miteinander verbindet. Mangel an Geld verändert unsere Biologie.
Der Neurowissenschaftler Robert Sapolsky schließt: „Gene sind nahezu ohne Bedeutung für kognitive Entwicklung, wenn Sie in Armut aufwachsen – die negativen Effekte der Armut übertrumpfen die Genetik.“
Soll ich das Marshmallow nehmen oder nicht?
Das bringt uns zurück zum Vorurteil, wenn die Armen es wollten, wären sie nicht mehr arm. Schauen wir uns den Willen noch genauer an.
In den 1960er Jahre führte der Psychologe Walter Mischel den weltweit bekannten Marshmallow-Test durch. Dabei lässt man Kinder mit einem Marshmallow auf dem Tisch allein. Der Versuchsleiter sagt dem Kind: „Ich gehe einen Moment raus. Du kannst das Marshmallow essen, aber wenn du wartest, bis ich zurück bin, bekommst du zwei Marshmallows.“ Auf YouTube kann man sich lustige Videos anschauen, wie die Knirpse diese Tortur meistern.
Es erfordert sehr viel Willensanstrengung, dem Impuls zu widerstehen, nach dem leckeren Marshmallow zu greifen (präfrontaler Cortex lässt grüßen!). Kinder, die den Marshmallow-Test bestehen, erreichen in einer Langzeitstudie auch in der Zukunft bessere schulische und akademische Leistungen.
Fangfrage: Gibt es beim Marshmallow-Test einen Unterschied zwischen Kindern aus armen und reichen Familien? Naaaaaaa, kommt ihr selbst drauf? Richtig!
Wenn ihr die Frechheit hattet, in einer armen Familie geboren zu werden, habt ihr im Vorschulalter kaum eine Chance, den Marshmallow-Test zu bestehen. Denn euer sogenannter Wille, auf den Neoliberale so stolz sind, ist durch was genau beschränkt? Genau! Durch den KONTEXT!
Wie gesagt hängt die Entwicklung unseres Willens mit der Entwicklung unseres Gehirns zusammen. Und die Entwicklung unseres Gehirns hängt vom Kontext ab. Der permanente Stress, dem Arme durch ihren Kontext ausgesetzt sind, fesselt sie in einer Knappheitsmentalität, aus der sie selbst nicht mehr herausfinden.
Gibt es denn überhaupt einen Weg raus?
Geld als Geschenk
Unsere Welt ist mit Preisschildern versehen.
Ab dem Augenblick, in dem wir die Schwelle unserer Wohnungstür übertreten, sind wir mit einer Welt voller Preisschilder konfrontiert. Grundlegende Güter wie Nahrung, Obdach, Energie, Bildung und Gesundheit haben ihren Preis. Alles kostet was. Und ob ihr einen Zugang zu diesen Gütern habt oder nicht, ist mehr und mehr eine Frage des Geldes.
Das ist der Grund, warum all die Punkte, die ich am Anfang für Arme aufgezählt habe, nicht auf Reiche zutreffen. In der Welt der Preise spielt Geld die größte Rolle und jeder Veränderungsvorschlag gegen die Armut muss sich mit der Frage auseinandersetzen, was wir mit dem Geld machen sollen.
In letzter Zeit sind die Rufe nach einem bedingungslosen Grundeinkommen lauter geworden. Immer mehr Menschen verstehen, dass die Ungleichverteilung von Geld die Armut befördert. Niemand glaubt mehr an die Idee, dass der Markt wie eine unsichtbare Hand alle Bürger glücklich macht, wie es einst der Urvater der liberalen Ökonomie Adam Smith gedacht hatte. Der Markt interessiert sich am wenigsten für die Armen.
Gleichzeitig merken wir, dass der Arbeitsmarkt durch die Digitalisierung eine enorme Zahl von Arbeitsstellen abbaut, weil intelligente Algorithmen besser in der Lage sind, unsere Jobs zu erledigen. Selbst wenn es strittig ist, wie der Arbeitsmarkt in Zukunft aussieht, bleibt das Problem der Armut weiterhin bestehen und sollte sich nicht zu sehr mit der Diskussion über die Digitalisierung vermischen.
Obwohl wir in Deutschland in einem Sozialstaat leben, der durch das Hartz-IV die Idee von so etwas wie einem bedingungslosen Grundeinkommen zumindest in Ansätzen verwirklicht, ist es inzwischen Teil des Problems geworden. Zum einen ist Hartz-IV nicht bedingungslos und mit harten Kürzungen verbunden, wenn man verschiedene Auflagen, die teilweise ins Absurde gehen, nicht erfüllt. Das erhöht den Druck auf Arme.
Zum anderen leiden Arme sowieso schon an Stress und einer Knappheitsmentalität, die sie lähmt. Die Maßnahmen, in die man sie schickt, müssen nicht unbedingt sinnlos sein, aber das löst nicht das eigentliche Problem.
„Es ist, als würde man einem Menschen das Schwimmen beibringen und ihn dann bei einem schweren Sturm ins Meer werfen“, sagt Eldar Shafir. Auch ist Hartz-IV inzwischen zu einem Stigma für sozialen Abstieg geworden. Nancy Adlers Forschungsarbeiten zeigen diesen psychologischen Zusammenhang am besten. Allein das Gefühl, arm zu sein, das mit dem Stigma Hartz-IV-Empfänger immer einhergeht, verschlechtert unseren Gesundheitszustand enorm und demotiviert uns langfristig.
Ein bedingungsloses Grundeinkommen, auf das jeder ein Recht hat, hieße, Menschen Geld zu schenken, ohne auf sie Druck auszuüben. In einer Welt voller Preise, in der Zugang zu wichtigen Ressourcen nur durch Geld geregelt wird, muss es als politische Pflicht betrachtet werden, Geld zu verschenken.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
ich persönlich bin ja eigentlich absolut für das bedingungslose Grundeinkommen. Eben weil ich auch denke, dass es sich so entspannter Leben würde. Ohne Druck das nötigste nicht bezahlen zu können. Aber meine Befürchtung ist, dass dann einfach sie Preise für so ziemlich alles steigen und das Grundeinkommen schon für nix mehr reichen würde. Der Staat müsste viel zu viel regulieren. Meinst du nicht?
Ich weiß nicht, warum unbedingt die Preise steigen sollten. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde ja die Kaufkraft der Menschen steigert, weil sie mehr Geld in der Tasche hätten und kaufwilliger wären. Sie vom Kaufen abzuhalten, in dem man die Preise wieder unbezahlbar macht, scheint keine wirkliche Lösung zu sein. Ich sehe eher die Gefahr, dass das GE so stigmatisiert wird wie Hartz-V. Danke für dein Feedback!
Das Problem scheint daran zu liegen, dass Geld von Tauschmittel zum Bewertungsmittel geworden ist. Es bestimmt nicht nur wieviel wir uns leisten können, es öffnet/schließt Türe zur Gegenwart und Zukunft und zwar nicht nur für uns sondern auch unsere Nachkommen, es macht/bricht uns, es entscheidet was wir essen, wo wir wohnen, wer wir in der Gesellschaft sind, unabhängig von unserer intellektuellen oder spirituellen Intelligenz.
Das ist zuviel Macht für ein Stück Papier mit Zahlen. Leider machen die, die es besitzen die Regeln, denn die Masse wird immer noch dumm gehalten seit dem MA..