Der Zwang zur Gruppe
Muzafer Sherif ist eine Koryphäe in der Sozialwissenschaft. Zu Gruppenbildungen machte er 1954 ein bahnbrechendes Experiment.
Eine Gruppe von 22 Schülern aus Oklahoma brachte seine Forschungsgruppe zu einem Zeltplatz und teilte sie in zwei Gruppen ein mit jeweils 11 Schüler. Die eine Gruppe nannten die Forscher „Klapperschlangen“ und die andere „Adler“. Nachdem sie eine Woche getrennt gezeltet hatten, arrangierte das Forschungsteam eine Reihe von Wettkämpfen zwischen den Gruppen.
Es kam sofort zu Reibung. Die Klapperschlangen steckten ihre Fahne auf dem Baseballfeld auf, die Adler rissen sie herunter. Nach einem Tauziehen plünderten die Klapperschlangen die Ferienhütten der Adler, verwüsteten alles und stahlen ein paar Klamotten. Daraufhin bewaffneten sich die Adler mit Stöcken und fielen über die Klapperschlangen her.
Nach einer Weile entwickelten die Gruppen sogar unterschiedliche Kulturen. Fluchten die Klapperschlangen, verboten die Adler das Fluchen. Traten die Klapperschlangen als Rowdys auf, trafen sich die Adler zum gemeinsamen Gebet.
Sherif zeigte, dass Menschen auf der Basis völlig beliebiger Merkmale ihre Gruppen bilden. Eine banale Einteilung in Namen reichte völlig aus und die Schüler fingen von alleine an, weitere Unterscheidungsmerkmale zu erfinden. Sie grenzten sich voneinander ab.
Ihre Wahrnehmung formte sich derart, dass sie vergaßen, einst eine gemeinsame Klasse gebildet zu haben. Nun waren sie Feinde.
Die lächerlichsten Eigenschaften schweißen Gruppen und Nationen zusammen und reißen sie genauso wieder auseinander. Sind die Eigenschaften erst erfunden, entstehen mit ihnen Minderheiten und Mehrheiten. Je nachdem welcher Seite man angehört, verändert sich auch die eigene Wahrnehmung. Dann wird es schwierig.
Ich sage jetzt nichts, sonst denken die
Als ich mal ein Paket abgeben wollte, bat ich meinen Kumpel Yasser, mich zu begleiten, um danach zusammen in die Uni zu gehen. Wir fuhren in die Postfiliale und ich stellte mich in die Warteschlange, die nicht vorankommen wollte.
Plötzlich klingelte Yasser‘ Handy. Wir waren relativ am Ende der Schlange, fast schon in der Schiebetür draußen. Ehe Yasser abheben konnte, schrie die Frau am Schalter laut durch den Raum:
„Gehen Sie raus! Hier wird nicht telefoniert!“ Für einen Moment zuckten alle Kunden zusammen. Wie geohrfeigt blickte mich Yasser an:
„Raus!“, schrie die Frau lauter. Ich drehte mich zu ihr um und hörte, wie Yasser hinter mir auf Farsi sagte:
„Ich sage jetzt nichts, sonst denken die Deutschen wieder typisch Ausländer.“
Noch einige Sekunden stierte er die Frau an, seine linke Faust ballte sich. Ich erinnere mich an den unterdrückten Zorn in seinen Augen, an den Wunsch, doch etwas zu sagen. Aber er sagte nichts.
Er ging raus.
Nicht das unhöfliche Verhalten, das jeder im Raum für unangemessen gehalten hatte, setzte sich in mir fest. Was blieb, war dieser Satz:
Ich sage jetzt nichts, sonst denken die Deutschen …
Damals wurde mir etwas Simples klar. Eine Art Lektion in Sachen Wahrnehmung. Ein Mehrheitsdeutscher würde sich niemals die Frage stellen, was irgendeine ominöse Minderheit über ihn denkt, wenn er von einer Postangestellten unhöflich angefahren werden würde. Als Mehrheit, verstand ich, gehört einem die Welt.
Eine Minderheit dagegen denkt immer aus einer doppelten Perspektive. Seiner eigenen und die der Mehrheit. Derartige Mühen würde sich die Mehrheit nie machen.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Danke für den interessanten Artikel! Die Thematik hat mich schon immer beschäftigt und man hört ständig andere Meinungen diesbezüglich. Dein Artikel hat mit geholfen etwas Klarheit darüber zu bringen.
Sehr inspirierend mein Freund! Ich lese deine Texte immer gerne.
Danke dir!