Vorurteile und Macht
Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio beschreibt in seinem Buch Der Spinoza Effekt, dass kulturelle Vorurteile teilweise mit unserer Evolution zusammenhängen. Unterschiede an anderen zu erkennen war wichtig, weil Unterschiede oft Gefahren und Risiken bargen. Die Folge ist dann Rückzug und Aggression. Diese Reaktionen mögen für Stammesgesellschaften durchaus nützlich gewesen sein, doch in unserer heutigen Gesellschaft sind sie sehr gefährlich.
In Vorurteilen zu denken, tut jeder Mensch, jede Gruppe, jede Nation. Es ist kein Phänomen der Mehrheit. Diese simple Tatsache führt man oft als Gegenargument bei Rassismus-Vorwürfen an. Viele weisen zurecht darauf hin, dass auch Minderheiten sehr diskriminierend sein können. Also warum tut man so, als wäre es ein Problem der Mehrheit?
Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zwischen den Vorurteilen einer Minderheit und denen der Mehrheit.
Die Mehrheit hat mehr Macht.
Wenn eine kleine Minderheit von Vietnamesen in Deutschland die deutsche Mehrheit für faul und respektlos hält, mag es die eine oder andere Deutsche beleidigen, aber gesellschaftlich bleibt das Vorurteil folgenlos. Befindet die Mehrheit aber Vietnamesen für faul und respektlos, kann es zu enormen Hass und starker Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und im täglichen Leben führen.
Theoretisch sind alle Vorurteile gleichermaßen schlimm. In der Praxis dagegen zeigt sich, dass Vorurteile, die mit der Macht der Mehrheit einhergehen, weitaus schlimmere Folgen haben und deswegen anders zu bewerten sind. Wenn Männer in Machtpositionen Frauen für unqualifiziert halten, werden sie Männer gegenüber Frauen bevorzugen. Hierbei müssen Frauen nicht mal in der Minderheit sein. Es reicht schon, dass sie nicht in der Machtposition sind. Kurz gesagt: Es sind die Folgen von Vorurteilen, die den Unterschied ausmachen.
An ein Wir glauben
Auf die Frage hin, woher er komme, antwortet Navid stets:
„Ich bin Deutscher.“
„Aber wo kommst du eigentlich her?“
„Aus Deutschland.“
„Aber –“
„– Was aber?“
„Aber deine Eltern …“
„Willst du Ahnenforschung betreiben oder mich kennenlernen?“ An diesem Punkt ist die Beklemmung für den Fragenden kaum mehr auszuhalten. Viele empfinden das als viel zu übertrieben. Vielleicht ist derjenige einfach nur interessiert, diese Überempfindlichkeit ist doch echt lächerlich. In einem Selbstversuch musste ich feststellen, dass ich bei der zweiten Frage aufgab. Es war mir zu anstrengend.
Doch das Problem ist nicht nur, dass ich etwas als anstrengend empfinde. Warum dieser Dialog zur Beklemmung führt, hat einen anderen Grund.
Nationale Identitäten sind keine Privatsache, sondern soziale Konstrukte. Alle müssen so tun, als ob sie Deutsche sind. Zweifel darf nicht bestehen. Um diese Geschichte zu glauben, brauchen wir die gegenseitige Bestätigung. Identitäten sind also intersubjektiv. Sie entsteht, weil wir zusammen daran glauben.
Es reicht nicht, dass Navid behauptet, er sei Deutscher. Schon allein, dass er darauf pocht, zeigt, dass sein Gegenüber nicht daran glaubt. Der Glaube ist aber der entscheidende Punkt.
Identitäten sind erfundene Geschichten, an die wir alle glauben müssen, damit sie existieren. Dieser Glaube funktioniert am besten ohne Zwang. Wenn wir irgendwann sagen können „Ich bin ein Deutscher.“, ohne dass es uns schwer über die Lippen geht, ohne dass der Fragende die Stirn runzelt, und wir über alles andere reden können, nur nicht, was ein Deutscher ist – nun, dann glauben wir an ein gemeinsames Wir.
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Danke für den interessanten Artikel! Die Thematik hat mich schon immer beschäftigt und man hört ständig andere Meinungen diesbezüglich. Dein Artikel hat mit geholfen etwas Klarheit darüber zu bringen.
Sehr inspirierend mein Freund! Ich lese deine Texte immer gerne.
Danke dir!