„Und nun wird mir klar“, sagt ein in die Jahre gekommener Ehemann zu seiner Therapeutin, „dass die Beziehung zwischen mir und meiner Frau so reguliert und definiert ist, dass man einfach keinen neuen und so großen Faktor in sie hineinstopfen kann (wie zum Beispiel – mich.)“
Ich musste lächeln bei diesem Satz. Er stammt aus David Grossmans Roman Stichwort: Liebe. Der Humor ist zynisch und trocken, vor allem die Untertreibung der Klammer. Die Botschaft: Ein ganzes Leben kann man mit einem Menschen verbringen, ohne ihn wahrhaftig zu kennen.
In seinem Essayband Die Kraft zur Korrektur von 2008 schildert Grossman, wie er manchmal bei einem Spaziergang ältere Paare beobachtet und versucht sie sich zu der Zeit vorzustellen, als sie ein Paar wurden, ihnen die Hüllen des Alters, der Müdigkeit und der Routine abzustreifen, um sie jung, frisch und naiv vor sich zu sehen. Wie sie, als sie ein Paar wurden, wohl übereingekommen sind, wortlos, stellt Grossman sich vor, „als würde ein Unterbewusstsein mit dem anderen Unterbewusstsein verhandeln“. Übereingekommen, einander nicht aus allen möglichen Blickwinkeln, mit allen Licht- und Schattenseiten zu sehen, übereingekommen, die Abgründe zu meiden, einige der dunklen Bedürfnisse und befremdlichen Ängste des anderen zu übergehen.
Hiermit schwöre ich, dich bis zum Lebensende zu lieben und nicht ganz zu erkunden.
„Eine solche Barriere zwischen einem Menschen und einem anderen können wir auch unter Freunden antreffen, und mögen es die besten, ja regelrechte Seelenverwandte sein. Auch bei den tiefsten, treuesten, dauerhaftesten Freundschaften werden wir hin und wieder eine dünne Schranke spüren, eine unbestimmte Scheu davor, alles zu wissen, einen Schutzwall, transparent, aber stabil, vor jener verborgenen Düsterkeit in unserem besten Freund.“
Ist das wirklich so verwunderlich? Schließlich lehrt uns die Erfahrung, dass wir es kaum fertig bringen, uns dem zu stellen, was in unserem eigenen Inneren vorgeht. Vielleicht unterscheidet sich die Mühe, die wir uns machen, um den anderen nicht in seiner ganzen Vielschichtigkeit zu erfassen, gar nicht so sehr von der, die wir, beinahe unbewusst, auf uns nehmen, um den vielen anderen, die es in jedem von uns gibt, nicht zu nahe zu kommen. Vielleicht geht es in beiden Fällen darum, bestimmte Vorstellungen von Identität zu wahren, mit denen wir einfacher leben können, weil sie uns nicht verunsichern, befremden und ängstigen.
Die Literatur läuft diesem Prozess entgegen.
Sie ist ein Akt der Rebellion gegen die Verführung, eine Trennwand zu ziehen zwischen sich und den anderen und letztendlich auch zwischen sich und sich selbst.
„Wir tun beim literarischen Schreiben alles, um jeden Charakter unserer Geschichten aus den Fesseln des Stereotyps und des Vorurteils zu befreien. Wenn wir eine Geschichte schreiben, kämpfen wir darum – manchmal jahrelang –, alle Aspekte einer menschlichen Figur zu verstehen; ihre inneren Widersprüche, ihre Motive und ihre Hemmungen, jenes brodelnde Magma, von dem ich bereits gesprochen habe.“
Grossman spricht also von Literatur als einer wahrhaftigen Verbindung zwischen zwei Menschen. Sie vermag in beide einzudringen. Jeder Leser kennt das Gefühl, das sich bei der Lektüre eines guten Buches einstellt: Die fiktionale Figur rückt uns so nahe, dass wir mit ihr verschmelzen. Wir spüren ihre innersten Wünsche und Ängste, ihren Humor, ihre Liebe und ihre Unsicherheiten – kurz: ihr Menschsein. Es ist das Gefühl von wirklicher Intimität.
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sehr schöner Artikel! Worte beschreiben, erklären, verdeutlichen, sensibilisieren, machen aufmerksam – Literatur hat diese Kraft – Menschen beschreiben, Schicksale und unterschiedliche Charaktere. Die Leidenschaft, Motive und Beweggründe beleuchten und ganz wichtig Fragen stellen, die jeder unterschiedlich beantworten kann, wenn er oder sie versucht in die Tiefe zu dringen. Massenmedien bieten hierfür sicher einen Aufriss und eine Provokation, doch dringen sie niemals in die Tiefe… . Der Mensch ist einfach ein zu komplexes Wesen um von A-Z verstanden zu werden. Deshalb wird es immer Chaos im Universum geben.