Juni 1967. Muralto in der Schweiz. Zwei sprechen. Einer ist Erich Fromm, der weltberühmte Psychoanalytiker und Sozialpsychologe. Der andere bin ich, weniger bekannt, besser gesagt: noch nicht geboren. Da das Gespräch in meinem Traum stattfindet, sollte ich wohl das Wort ergreifen. Also gut.
BG: Herr Fromm, Sie haben über die Liebe geschrieben, dazu würde ich Sie gerne interviewen.
EF: Sie sind aus dem Jahre 2017 hergereist, um mit mir über die Liebe zu sprechen? Das hört sich verdächtig nach Liebeskummer an.
BG: Nein nein, ich habe Ihr Buch Die Kunst des Liebens gelesen und habe einige Fragen.
EF: Freut mich zu hören, dass es auch in einem halben Jahrhundert noch Leser finden wird. Wie sieht es denn in Ihrem Leben mit der Liebe aus?
BG: Bei mir? Ich bin frisch in einer Beziehung. Zuvor war es nie die Richtige gewesen.
EF: Würden Ihre letzten Freundinnen das bestätigen?
BG: ….
EF: Nun, ich bin kein Richter, ich kann Ihre Freundinnen nicht in den Zeugenstand rufen.
BG: Sie würden wohl erzählen, ich könne mich nicht richtig öffnen, oder, dass ich nicht wirklich lieben kann, sowas in der Richtung. Aber ich versichere Ihnen, es hat nicht gepasst.
EF: Und ich frage Sie: Was, wenn es gar nicht so sehr darum geht, ob es passt oder nicht? Nehmen wir einen Maler. Sie würden ihn doch auslachen, wenn er, anstatt sein Handwerk zu erlernen, behauptet, er brauche nur auf das richtige Motiv zu warten, und wenn er es gefunden habe, werde er sein Meisterwerk vollbringen
BG: Beim Malen mögen Sie Recht haben, aber bei der Liebe?
EF: Wieso sollte es bei der Liebe anders sein? Auch sie ist eine Kunst, die es zu erlernen gilt.
BG: Ich war in verschiedenen Beziehungen und alle waren anders. Die Gespräche, das Körperliche, das gesamte Miteinander ist doch geprägt von der Individualität der Partner und ihrem Zusammenspiel.
EF: Sind Ihre Beziehungen, so unterschiedlich sie auch waren, nicht aus ähnlichen Gründen gescheitert?
BG: Wieso suchen wir dann überhaupt nach dem richtigen Partner?
EF: Romantische Geschichten! Davon ist unsere Kultur durchsetzt. Alles dreht sich um die Romantik. Sie haben doch bestimmt viele Liebesfilme gesehen – sagen Sie mir, wie viele Filme haben erzählt, wie der Held an sich arbeitet, um seine Partnerin lieben zu lernen?
BG: Weniger dramatischer Stoff, ich geb’s zu.
EF: Ja, aber verstehen Sie, wie wir so von klein auf manipuliert werden, und zwar auf zweierlei Art: Erstens, wir stellen die Suche nach dem richtigen Partner in den Vordergrund und zweitens, wir verwechseln das Anfangserlebnis, sich zu verlieben, mit dem permanenten Zustand zu lieben.
BG: Aber wir verlieben uns nicht ohne Grund. Es hat doch, was zu bedeuten, dass ich eine bestimmte Frau erobern möchte.
EF: Erobern tut man eine Festung, oder eine Burg …
BG: -Oder seine Liebe.
EF: Nein, eben nicht. Erobern heißt in Besitz nehmen. Aber ich sag Ihnen, warum sie so denken: Unsere Wirtschaft erzählt uns, dass sich alles um den Besitz von Wert dreht. Denken Sie nicht, dass sich so eine Lebensweise auch auf das Zwischenmenschliche auswirkt? Wer hat wie viel Wert auf dem Personalmarkt? Und natürlich: Wie steigere ich meinen Wert? Also strebe ich nach Erfolg und Reichtum, Macht und Ruhm; ich putze mich heraus, häufe Besitz an und präsentiere mich von meiner besten Seite – alles in dem Versuch, so liebenswert wie möglich zu erscheinen, um die wertvollste Frau zu erobern, wie Sie sagen.
BG: Ich habe den Eindruck, dass es Ihnen vor allem um eine Kritik am Kapitalismus geht.
EF: Das kapitalistische Liebesmodell ist ein fundamental egoistisches Prinzip, das es zu überwinden gilt!
BG: Aber Sie und Ihr Buch sind ein Teil des Kapitalismus! Auch wenn wir in der Vergangenheit miteinander sprechen, so kann ich trotzdem nicht umhin, mein Ich aus dem Jahr 2017 mitzubringen. Ihr Buch Die Kunst des Liebens ist inzwischen so was wie die Bibel einer Wohlstandsgesellschaft, die zwar genug hat aber noch unbedingt Ihr Sein haben will.
EF: Wie meinen Sie das?
BG: Sie wollen doch weg vom wirtschaftlichen Tauschgeschäft, weg vom Besitz, und hin zum Sein. Darüber haben Sie auch ein Buch geschrieben . Aber diese Leute kaufen Ihr Buch, sie verschenken es, sie zitieren daraus – alles innerhalb ihrer Konsumwelt, einer Welt, in der sie sich nun aber mit Ihrem Buch etwas wohler fühlen.
EF: Sie können meine Ausführungen doch nicht nach der Leserschaft beurteilen. Es geht um den Inhalt und der lautet: Bei den ganzen Bemühungen im menschlichen Tauschgeschäft versäumen wir zu lernen, worauf es bei der Liebe wirklich ankommt.
BG: Und das wäre?
EF: Wir brauchen die Liebe. Wir sollten endlich verstehen, dass sie eine Kunst ist und erlernt werden muss. Lassen Sie mich etwas ausholen, damit Sie den Zusammenhang verstehen.
BG: Wenn es nicht allzu lange dauert.
EF: Haben Sie es eilig?
BG: Nein, aber…
EF: Wir Menschen sind uns unserer selbst bewusst. Sich seiner bewusst sein heißt, sich seiner als abgesonderte Entität begreifen. Anders gesagt, wir nehmen uns als Individuen wahr, abgetrennt von dem ursprünglichen Zustand der Einheit mit der Natur. Wir wissen um unseren bevorstehenden Tod, kriegen es mit der Angst zu tun und wollen nichts mehr, als das ursprüngliche Gefühl der Einheit erfahren. Natürlich kommen wir nie ganz zu diesem Zustand zurück, aber wir können ihn zeitweise empfinden. Dafür gibt es nur vier Möglichkeiten: erstens, orgiastische Zustände wie Trance, Sex, Tanz und solcherlei, zweitens, schöpferisches Schaffen, drittens, die Konformität mit der Gruppe und schließlich, Sie werden es sich denken können, die Liebe. Besser gesagt, die reife Liebe.
BG: Wo ist der Unterschied?
EF: Zwischen einer reifen und einer unreifen Liebe?
BG: Genau.
EF: Bei der unreifen Liebe machen beide Partner sich voneinander abhängig. Sie suchen Nähe, um ihre eigene Leere zu füllen. Sie bemühen sich um Intimität, wie jedes Paar, sie teilen ihre Freude und ihren Ärger, reden über Hoffnungen und Ängste, sind körperlich intim und so weiter. Aber all diese Arten von Nähe schwinden mit der Zeit, weil die Partner nicht aus dem Vollen schöpfen, um dem anderen zu geben, sondern voneinander zehren, um ihre eigene Leere zu füllen. Solange bis nichts mehr da ist. Dann geht das Ganze von Neuem los. Es endet immer mit dem Wunsch nach einer neuen Liebe – immer in der Illusion, dass die neue Liebe ganz anders sein wird als die früheren Beziehungen. Reife Liebe hingegen setzt voraus, dass der Liebende unabhängig ist. Rauchen Sie?
BG: Nein, danke. Ja, ich kenne Menschen, die nur in Abhängigkeit leben können. Die Beziehung wird so über kurz oder lang zu einem Gefängnis. Aber wie kann man, wie haben sie es genannt, aus dem Vollen schöpfen? Das ist für mich noch zu abstrakt.
EF: Nun, dann lassen Sie uns konkret werden und Sie selbst als Beispiel nehmen. Wenn man Ihren Freundinnen trauen mag, heißt das für Sie: Um lieben zu lernen, müssen Sie Ihr Ego konfrontieren. Keine leichte Aufgabe, glauben Sie mir. Sie müssten lernen, Ihr Selbstwertgefühl nicht von Bestätigung und Besitz abhängig zu machen. Dazu braucht es tiefen Glauben. Glauben nicht im religiösen Sinne, sondern einfach Glauben als Vertrauen an den Wert Ihres unabhängigen Selbst.
BG: Ich soll mein Ego überwinden, um mein Selbstwertgefühl zu stärken?
EF: Tun Sie dies nicht, Sind Sie abhängig von der Wertgebung der Außenwelt und somit von den Statussymbolen und Währungen des großen Tauschgeschäfts.
BG: Aber wie kann ich mir ein Bild von meinem Wert machen, ohne Feedback der Außenwelt?
EF: Feedback?
BG: Entschuldigung, was ich damit sagen will ist: Sie setzen einfach voraus, dass so etwas wie Selbstwertgefühl ohne Interaktion existiert. ‚Glauben an den Wert meines unabhängigen Selbst‘ – die Bedeutung hinter diesen wohlklingenden Worten ist keineswegs klar.
EF: Sie mögen es wohl zu philosophieren und ich philosophiere gerne mit Ihnen. Aber die Kunst der Liebe verlangt Praxis.
BG: Denken Sie nicht, dass es wichtig ist zu klären, ob das, was Sie verlangen, überhaupt möglich ist?
EF: Natürlich, aber indem wir es aktiv probieren, nicht indem wir darüber theoretisieren. Die praktische Übung des Glaubens fängt bei den kleinen Dingen des täglichen Lebens an. Wann verlieren Sie im Alltag den Glauben? Wann verhalten Sie sich feige? Welche Rationalisierungen benutzen Sie?
BG: Ich weiß es nicht, ich kann es Ihnen nicht sagen.
EF: Nicht mir müssen Sie die Frage beantworten, sondern sich selbst. Erst wenn Sie Ihr Ego im Griff haben, können Sie unterscheiden zwischen dem narzisstisch entstellten Bild, das Sie sich von einem Menschen machen, und dem wirklichen Menschen, wie er unabhängig von Ihren Interessen, Bedürfnissen und Ängsten existiert. Seien Sie ehrlich mit sich. fragen Sie sich, warum Sie etwas an Ihrem Partner stört. Wollen Sie Ihrer Freundin helfen oder geht es in Wahrheit nur um Sie? Darum, was Ihr Idealbild einer Frau ist. Fragen Sie sich, woher diese Idealvorstellung kommt und was das über Sie aussagt. Ich garantiere Ihnen, Sie werden dabei des Öfteren auf Ihr Ego stoßen. Das Ego lässt sich nicht so einfach klein kriegen. Aber wenn, Sie sich die Mühe machen, eröffnen sich Ihnen ganz neue Welten. Dann können Sie wahrhaftig Liebe geben. Geben nicht im kapitalistischen Sinne, nicht als aufgeben, nicht im Austausch für etwas anderes; zu geben, ohne etwas zu empfangen, das ist für Sie noch gleichbedeutend mit betrogen werden. Für den Liebenden aber hat das Geben eine ganz andere Bedeutung. Er gibt von seinem Interesse, von seinem Verständnis, seinem Humor, seinem Wissen, von seiner Freude wie seiner Trauer – von allem, was in ihm lebendig ist. Sein Geben ist ihm an und für sich eine Freude. Liebe ist nicht das Problem, geliebt zu werden, sondern die Fähigkeit, Liebe zu geben. Sie sind skeptisch?
BG: Eher nachdenklich.
EF: Sprechen Sie ruhig frei heraus.
BG: Ihnen sind alle heftigen Gefühle verdächtig. Sie sagen, Liebe sei etwas, das man in sich selbst entwickelt, nicht etwas, dem man verfällt. Ich stimme Ihnen zu, dass man für die Liebe wohl arbeiten muss. Aber ich muss Ihnen ehrlich gestehen: Ich will mich heftig verlieben. Ich will eine Liebe, die ihr Zentrum nicht im Ich hat, auch wenn sie deshalb für immer mit einem Mangel verbunden bleibt. Geht das innerhalb Ihrer Liebesvorstellung?
EF: Ich halte das für eine narzisstische Liebesvorstellung.
BG: Eine Therapie, die das Ich soweit stärkt, dass es sich von niemandem mehr abhängig macht, soll weniger narzisstisch sein? Ist nicht jede wahre Liebe mit Abhängigkeit verbunden, da wahre Hingabe nie ohne Kontrollverlust daherkommt?
EF: Sie werfen alles durcheinander.
BG: Und wenn ich mein Ego aufgebe und artig im Einklang mit mir bin, sagen Sie mir, wie soll ich dann noch ausufernd leben? Sie sagen doch Liebe sei Kunst. Wie kann jemand, der sich von allem losreißt noch Kunst schaffen? All die große Kunst ist aus einer Unordnung im Inneren entstanden und jede Unordnung aus einer irgendwie gearteten Abhängigkeit.
EF: Sie werfen einfach alles durcheinander: Sie…
An dieser Stelle geriet das Gespräch ins Stocken. Ich konnte an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass er müde geworden war, auch wenn er betonte, dass er gerne weiter diskutieren wolle. Unsere Stimmen senkten sich zu einem Flüstern und verstummten dann ganz. Ich wünschte, wir wären stillschweigend übereinkommen, aber ich befürchte, davon kann keine Rede sein. Die Stille senkte sich schwer und lastend zwischen uns. Ich wollte mit der Bemerkung schließen, dass ich seine Thesen weiterhin sehr schätze und froh bin, ihn gesprochen zu haben, denn aus seinem Mund klinge das Ganze wahrhaftig, aber er hörte nur mit halbem Ohr zu, wie auch ich kaum einen Laut heraus bekam. Ich hörte noch, dass jemand sagte, wir seien in Muralto. Murus heiße Mauer, altus heiße hoch. Ein passender Ort, dachte ich. Dann verschwamm alles.
9 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Was für ein tolles Interview/ Gespräch. Je weiter ich gekommen bin, desto mehr hatte ich das Gefühl neben Euch beiden zu stehen und zu horchen. Danke!
Wow Babak ! Das Interview hatte soviel Tiefe und das nicht aus dem Grund, weil du dir Erich Fromm als Sidekick ins Boot geholt hast, sondern weil es wirklich einen Nerv unserer Zeit trifft. Es beschäftigt..das sollte dir Kompliment genug sein. ^^
Weiter so und vielen Dank.
Die Art und Weise wie Du und Fromm diskutierten erinnerte mich an Jorge Bucays “komm ich erzähl dir deine Geschichte”
Es gilt das kapitalistische Liebesmodell zu überwinden.
Vielen Dank Babak für dieses Interview !
Wow, tolle Art und weise eine Theorie darzustellen und sie gleichzeitig ins Leben zu rufen, sie kritisch zu betrachten und dennoch ihre Ernsthaftigkeit in den Zentrum zu stellen. Ein verdammt tiefsinniger Inhalt der auf vielleicht zuvor unbekannten Eben zum Nachdenken anregt!
Ich bin überzeugt das wir im 21ten Jahrhundert der Liebe eine ganz neue Beteutung geben müssen. DANKE für das Interview.
Beeindruckend
Endlich ein mehrwertiges Interview von relevanter Substanz. Hoffentlich wird dieses kleine Stück Hingabe noch oft geteilt.
Viele Grüße aus Tübingen
Eigentlich, sind mir spontane Gedanken gekommen die ich hier schreiben wollte. Aber irgendwie spüre ich das Bedürfnis intensiver nachzudenken, über das was ich gerade hier gelesen habe.
Sehr schön fesselnde Schreibweise.
vielen dank babak! lwie oft hab ich EF gelesen, wie oft innere Dialoge mit ihm geführt! Gut, dass er Dir nochmal erschien und du ihn nochmals gesprochen hast – in diesem sinne ; geteiltes leid ist halbes leid! danke dafür babo ?