Herr Richter, habe ich Ihnen eigentlich von dem Schreibseminar erzählt, wo mich Timuçin letztens mitgeschleppt hat? Hä? Klar, will ich Schriftsteller werden! Wieso fragen Sie so komisch? Trauen Sie einem Hauptschüler etwa den Literaturnobelpreis nicht zu? Na bitte, geht doch.
Also. Wir fahren nach dem Unterricht direkt zu diesem Schreibseminar. Ich so voll aufgeregt. Denk nur, es wird krass, wenn ich meinen inneren Kafka entfessle und von dem Morgen erzähle, wie ich als Marienkäfer erwachte. Heftig, oder? Hat noch nie jemand erzählt! Soll ich kurz daraus vorlesen? Hab die Blätter zufällig mitgebracht … wie nein … aber … Klar hat es was mit dem Fall zu tun! Wollen Sie nicht zumindest den Anfang … auch nicht … war so klar, dass Juristen null Plan von Literatur haben.
Ist Ok. Jedenfalls sitzen wir irgendwann in so nem Stuhlkreis, umringt von sieben Studentinnen und einer Dozentin, so ne Hipster Brigitte in nem Ich-komme-gerade-vom-Ashtanga-Yoga-Outfit. Als Erstes fragt sie so jeden übervorsichtig nach dem PRONOMEN. Ich so, hä? Holen wir jetzt Grammatikunterricht nach? Wen jucken Pronomen? Was ist das überhaupt?
Alle meinten aber so ‚SIE‘, also sage ich auch ‚SIE‘. Plötzlich lächeln mich die Studentinnen zum ersten Mal, seit ich den Raum betreten habe, voll freundlich an. Nur Timuçin, der Dummkopf, sagt ‚er‘. Der Typ muss auch immer aus der Reihe tanzen. Künstler halt.
Danach erzählt Brigitte ungelogen fünfhundertstunden über ihre Benachteiligung als Frau und wie dieser Umstand sie zum Schreiben motiviert habe. Junge, Junge, Herr Richter! Mir kamen fast die Tränen, als Brigitte meinte, dass sie für ihre 6000 Euro-im-Monat-Lehrstelle zwölf Wochen gewartet habe. Brigittes dieser Welt haben‘s echt schwer im Patriarchat. Und ja, ich weiß, was Patriarchat bedeutet. Ich kann googeln.
Danach haben die sieben Studentinnen locker noch mal zweitausend Jahre über ihre Benachteiligung erzählt. Spätestens dann war die Stimmung im Keller. Ich denk mir nur, Schwestern, wann fangen wir endlich zu schreiben an? Seit morgens hatte ich nichts gegessen. Und der Hunger durchlöcherte meinen Magen wie ein mordlustiger Psycho. Allein der Gedanke an den Kinderheimfraß hält mich davon ab, zu verduften. Wenn Sie mal jemanden vergiften wollen, Herr Richter, bringe ich Ihnen ne Tupperdose „GESUNDES ESSEN“ vom Heim mit. Dünnschiss hoch zehn!
Jedenfalls fragt mich Brigitte plötzlich, OHNE VORWARNUNG! Ob ich nicht auch über meine Erfahrung als junge Frau auf der Hauptschule berichten wolle … Ich schwöre auf alles, Herr Richter, hat die original so gefragt! Und ich so, will die mich jetzt behindert ficken?
„Mach dir keine Sorge, Amiaa, hier bist du unter allies!“
Wat für unter ALIENS? Dachte echt, ich bin im falschen Film. Und wie spricht die Alte meinen Namen aus? Es heißt AmiR! Herr Gott nochmal, VIER Buchstaben! Und die Frau ist unsere SCHREIBDOZENTIN!
Doch das allerallerkrasseste kommt noch, Herr Richter. Die Studentinnen glotzen mich übertrieben mitfühlend an, als hätte Putin gerade eben meine gesamte Familie exekutiert. Eine, mit so blau gefärbten Haaren und nem FCK-AFD-T-Shirt legt sogar ihre Hand auf meine Schulter. Ich so Ganzkörperschweißausbruch. Timuçin kollabiert weg vor Lachen. Aber alle werfen ihm so Todesblicke zu. Da hält er schön die Fresse. Voll unsensibel von ihm auch zu lachen, finden Sie nicht, Herr Richter? Aber die Frauen schirmen mich wie Löwinnen vor diesem misogynen Schwanz ab. Und ja, ich weiß, was misogyn bedeutet. Ich kenne Wikipedia.
Na ja … wie soll ich sagen? Möchte jetzt nicht behaupten, dass es mir gefallen hat, als Frau gesehen zu werden, doch wenn dich Studentinnen mal nicht als asozialen Hauptschulkanaken betrachten, sondern … na ja, halt als hilfsbedürftige Frau unter asozialen Hauptschulkanaken, dann kriegst du SOOO viel LIEBE ab! Ich meine, du bist dann halt echt was wert. So als Mensch, mein ich jetzt.
Und, naja, da ich so was nicht täglich erlebe und es lange her ist, dass ich mich so beschützt gefühlt habe, wechsle ich kurz von Kafka auf meine Denzel Washington-Nummer um. Ich schwöre auf alles, Herr Richter, meine Denzel-Imitation ist behindert süß! Oscarreif sein Vater!
Ich deutete so auf Timuçin und sage mit zitternder Stimme:
„I-I-Ich weiß nicht … o-o-ob ich das vor ihm kann.“
Junge, Junge, Herr Richter. Die haben Timuçin aus dem Raum gejagt wie eine Hexe aus einem mittelalterlichen Dorf! Mit Schaufel und Mistgabel. Er ruft noch so nach: „Ey! Ich bin auch eine Frau!“ Aber wir kannten ja alle seinen wahren Pronomen.
Als unser natürlicher Feind dann endlich weg war, habe ich meinen Schwestern von dem Morgen erzählt, wie ich als Frau erwachte und die Jungs auf der Hauptschule mich verprügelt haben, weil ich so gern Rosa Kleider trage und mir die Fingernägel färbe. Ich sag denen so, nur aus Panik sitze ich hier in Männerklamotten. Das war next Level Drama, Herr Richter. Einfach mal so Shakespeare zum Hund gemacht. Nach der Nummer kann Goethe schön meine Schuhe putzen. Selbst Brigitte kamen die Tränen, und bedenken Sie, die hat es echt schwer im Patriarchat gehabt.
Aber wissen Sie, was mir noch auffiel, Herr Richter: Je trauriger meine Geschichte wurde, umso mehr haben die mich geliebt. Ernsthaft jetzt! Ich konnte richtig sehen, wie ihre Liebe wächst, je mehr Dreck ich fresse. Deswegen habe ich immer weiter übertrieben, einfach nur um ihnen einen Gefallen zu tun. Nett von mir, oder? Am Ende haben trotzdem alle geweint. Selbst mich rührte meine Lebensgeschichte zu Tränen. Ich meine, das war schon heftig, was ich so erlebt habe. Also nicht jetzt ich, sondern mein Fantasie-Ich, aber das macht ja einen großen Schriftsteller aus. Ich fühlte richtig die Frau in mir, ohne Scheiß jetzt. So richtig!
Jedenfalls kamen wir gar nicht zum Schreiben. Brigitte meinte, ich solle unbedingt meine Geschichte auf Instagram veröffentlichen und mich niemals schämen, eine Frau zu sein. Dann umarmten wir uns lange. Das hat mir echt den Rest gegeben. Wissen Sie, Herr Richter, ich wollte ja die Wahrheit sagen, aber die waren so nett zu mir und ich wollte unsere Schwesternschaft nicht mit der Wahrheit ruinieren. Das hätte doch nur alles zerstört.