Ziadehs Briefe sind bis heute nicht aufgetaucht; diejenigen von Gibran hingegen wurden veröffentlicht und von Ursula und S. Yussuf Assaf ins Deutsche übersetzt. Einer der schönsten Briefe ist der vom 3. November 1920. In einer langen Passage offenbart Gibran seine Einsamkeit und seine Sehnsucht nach einer wahrhaftigen Begegnung.
„Und du? Bist Du nicht auch eine Fremde in dieser Welt? Ist Dir Deine Umgebung nicht fremd mit all ihren Zielen, Wünschen und Tendenzen? Sag mir, May, gibt es in dieser Welt viele, die die Sprache Deiner Seele verstehen? Wie oft bist Du jemandem begegnet, der Deinem Schweigen lauscht, der Dein Schweigen versteht und der mit Dir das Allerheiligste des Lebens betritt? Du schreibst Du bist ein Künstler und ein Dichter, und es soll Dich glücklich und zufrieden machen, Künstler und Dichter zu sein. Ich bin weder Dichter noch Künstler, May. Ich verbringe meine Tage und Nächte malend und schreibend, doch meine Seele ist nicht in meinen Tagen und Nächten. Ich bin ein Nebel, der die Dinge einhüllt und voneinander trennt, statt sie zu vereinen. Ich bin ein Nebel, der sich nicht in Regen verwandelt. Ich bin Nebel, und darin liegt meine Einsamkeit und meine Isolation, mein Hunger und mein Durst. Mein Unglück ist es, dass sich dieser Nebel nach der Begegnung mit einem anderen Nebel am Horizont sehnt. Er sehnt sich danach, jemanden sagen zu hören: Du bist nicht allein. Wir sind zu zweit, und ich weiß, wer du bist. Sag mir, meine Freundin, gibt es in dieser Welt jemanden, der fähig und willens ist, mir zu sagen: Ich bin ein anderer Nebel. Komm, o Nebel, lass uns unsere Zelte nebeneinander aufschlagen und lass uns miteinander auf den Bergen zelten! Lass uns über die Bäume ziehen und die hohen Felsen bedecken! Lass uns eindringen in die Poren und Herzen der Geschöpfe, und lass uns durch ferne, unbekannte Orte streifen! Sag mir, May, gibt es in Deiner Umgebung jemanden, der fähig und willens ist, mir ein einziges solcher Worte zu sagen? Ich habe das Ende dieser Seite erreicht, bevor ich auch nur ein Wort von dem geschrieben habe, was ich Dir zu sagen beabsichtigte, als ich die erste Seite zu schreiben begann. Der Nebel hat sich nicht in Regentropfen verwandelt, und jenes beflügelte, unruhige Schweigen hat sich nicht in Worten ausgedrückt. Willst du nicht Deine Hände mit diesem Nebel füllen, May? Willst Du nicht Deine Augen schließen und dem beredten Schweigen lauschen? Und willst Du nicht wieder einmal herüberkommen, in dieses Tal, wo sich die Einsamkeit wie eine Herde bewegt, wie eine Vogelschar flattert, wie ein Bach plätschert und sich hoch erhebt wie eine Eiche? Willst Du nicht wieder einmal hier vorbeikommen, May?”
4 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Welch schöner Beitrag. So innig und tiefgründig, die Verbindung der Seelen… diese Art von Liebe, Herz & Verstand, lässt sich im Zeitalter des Rausches, Stresses der Schnelle vermissen..
Bis heute habe ich niemanden kennen gelernt, der genau das gleiche, wie ich durchmachte. Lieben und geliebt zu werden ohne einander zu haben. 8 Jahre voller Liebe, 8 Jahre physische Distanz. Der Tod trennte uns nicht, aber die Kraft der Liebe war nicht stark genung. Nun kann ich in Ruhe weiter leben und wissen, dass es tatsächlich so eine Art von Liebe gibt. Mögen all die Seelen da draußen ihre Liebe finden. Amin.
Von Herzen Danke für diesen Beitrag.
Von Herzen Danke für diesen Beitrag. Khalil Gibrans Worte sind Nahrung für die Seele.